Obwohl es niemand will, könnte die EU wie einst Kakanien versinken

Immer wieder beeindruckt, welch konzise Sicht Intellektuelle des angloamerikanischen Raumes auf die Geschichte Kontinentaleuropas und ihre Parallelen zur Gegenwart besitzen.

Das einzige Reich, das jemals den Geist Europas atmete, war das multinationale, von unterschiedlichen Geschwindigkeiten geprägte Habsburgerreich“, schrieb vor einiger Zeit in der „FAZ“ ein von den republikanischen Idealen der amerikanischen Verfassung geprägter Gelehrter: Es handelt sich um Tony Corn, der mehrere Jahre als politischer Berater im diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten gewirkt hatte.

Offenkundig besitzen die umfassend gebildeten Intellektuellen des angloamerikanischen Raumes – vielleicht aufgrund der geografischen Distanz – eine viel bessere Sicht auf die Geschichte Kontinentaleuropas und auf Parallelen zur Gegenwart als manche der von modischen Vorurteilen Verblendeten hierzulande, die sich schon anschicken, im nächsten Jahr die herostratische Figur des Gavrilo Princip zu einem Helden umzumodeln.

Was Tony Corn in seinem Artikel nur andeutete, erläutert Sir Robert Cooper, ehemaliger britischer Diplomat und nun Sonderberater des Europäischen Auswärtigen Dienstes, in einem Aufsatz, der in der Septembernummer des Magazins des Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen erschien und kürzlich in der „NZZ“ nachgedruckt wurde.

Es ist hier nicht der Platz, um die verblüffenden Parallelen zwischen „Kakanien“ einst und der EU jetzt aufzuzählen, die Cooper den Lesern vor Augen führt. Allein das Beispiel der Namen der beiden Gebilde überrascht in ihrer übereinstimmenden Kuriosität: „Kakanien“ ist Robert Musils Wort für einen „seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist“. Aber Kakanien war kein Reich im strengen Sinn, vielmehr ein eigenartiges Gefüge von Völkern, wobei nach 1867 die Bürger Cisleithaniens einem „Staat“ angehörten, der den schrulligen Namen „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ trug.

Ganz analog steht es um die Europäische Union: Ihre Natur spiegelt sich, so schreibt Cooper, in dem Wort nicht wider: „,Binnenmarkt‘ und ,Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‘ ist zu wenig; ,Europäische Union‘ ist zu viel: Die EU ist keine Union im Sinn der Vereinigten Staaten oder des Vereinigten Königreichs. Dieser letzte Name steht also für eine Bestrebung – doch was bringt das Streben, wenn niemand weiß, worauf es abzielt?“ Und worauf zielt Cooper mit seiner Parallelführung ab?

Kakanien, so Cooper, war stabil und anpassungsfähig, doch es verschwand in einer Rauchwolke. Könnte der EU – historisch jung und wenig beliebt bei vielen, für die sie da ist – Ähnliches drohen? Nicht militärisch wie bei der von Giftgas getränkten Rauchwolke vor fast 100 Jahren, sondern anders: Finanzwirtschaftliche Verwerfungen drohen genauso destruktiv zu wirken. „Wenn das Ergebnis (der verfehlt eingeführten Währungsunion) wirtschaftliche Not und politische Instabilität ist, dann wird die EU das Schicksal der Habsburgermonarchie teilen.“

Cooper weist nach, dass der EU manche Vorzüge fehlen, die Kakanien besaß – trotz aller Brüchigkeit, die seinen Verfall beförderte. Doch unvermeidlich ist das drohende Schicksal nicht. Wir brauchen bloß intellektuelle Redlichkeit statt hohler Phrasen, die Bereitschaft, Verfehltes zurückzunehmen und „ein gewisses Verständnis von den Dingen, von denen die Gefahr besteht, dass wir sie verlieren“.


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Zum Autor:
Rudolf Taschnerist Mathematiker und Betreiber des math.space im quartier 21, Museumsquartier Wien. Sein neuestes Buch: „Die Zahl, die aus der Kälte kam. Wenn Mathematik zum Abenteuer wird“ (Hanser Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2013)

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