Die Überwindung des Baj Ganju

Bulgarien. Vom lesefreudigsten Land am Balkan zum Literatur-Entwicklungsland.

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it einem Bund Paprika in der Ta sche reist der tölpelhaft urwüch sige Rosenölhändler "Baj Ganju" durch Europa und gerät dabei in allerlei komisch-lächerliche Situationen. Zurück in Bulgarien beeindruckt er seine Landsleute mit europäischer Kleidung und pervertiert das im Westen Gelernte, indem er mittels mafioser Machenschaften Karriere als Politiker macht. Diese Romanfigur von Aleko Konstantinov (1863 bis 1897) ist zur negativen Identifikationsfigur für die Bulgaren geworden: Keiner will sein wie Baj Ganju, und doch erkennen sich alle in ihm.

Die Überwindung des Baj Ganju, darauf hofft man in Sofia in Intellektuellenkreisen. Man weiß, noch liegt der Balkan sehr viel näher am Bosporus als an der Maas - und das nicht nur geografisch, sondern mehr noch historisch. Bis 1878 fast 500 Jahre lang unter türkischer Herrschaft, bis 1989 fast 50 Jahre unter russischer Kuratel - das prägt. Wo man nicht siegen kann, gilt es, sich zu arrangieren. Fragt man den seit Jahren in Sofia lebenden Publizisten und Übersetzer Thomas Frahm nach dem größten Problem Bulgariens, kommt ohne Zögern die Antwort: die Korruption. Will man am Frauenmarkt, dem nobelsten der Stadt, einen Stand erwerben, sollte man bei Freunden und Verwandten rechtzeitig mit einer Kollekte beginnen und nicht aufhören, bevor zirka 5000 Euro beisammen sind.

Günstiger ist es, einen Tisch auf dem Büchermarkt zu ergattern. Um in dieser - seit dem Zusammenbruch des Literaturbetriebs - größten Buchhandlung Sofias erfolgreich zu sein, sollte man aber die richtige Literatur dabei haben: Gut verkaufen sich etwa Dan Browns "Sakrileg" oder Isabel Allendes "Zorro". Man findet aber auch Hitlers "Mein Kampf" und bekommt für das Erstaunen darüber noch Markus Wolfs Erinnerungen als Vorteilsangebot dazugelegt.

Bulgarien ist das lesefreudigste Land Südosteuropas, behaupten die Redakteurinnen von "LIK" (Abkürzung für Literatur, Kunst, Kultur). 30 Jahre gibt es die angesehene Kulturzeitschrift schon. Vor 1989 hatte sie eine Auflage von 20.000 Stück, heute ist das Team um Chefredakteur Juri Lasarov froh, 3500 Stück abzusetzen. Existieren kann das Monatsmagazin nur unter dem Dach der bulgarischen Nachrichtenagentur, denn die Alternative lautet: Bildung oder Essen. Die Buchhandlungen in Sofia bieten heute mehr fremdsprachige Bücher an als bulgarische. Übersetzungen ins Bulgarische werden vom Westen bezahlt, nicht jedoch solche aus dem Bulgarischen in eine andere Sprache. Das wird als Grund dafür angeführt, warum bulgarische Autoren, wenn sie ins Ausland gehen, bald in der Sprache ihres Gastlandes schreiben. So wie Rumjana Zacharieva, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und publiziert. Ein österreichisches Beispiel wäre Dimitré Dinev. Deshalb seien in der EU so gut wie keine bulgarischen Autoren bekannt, klagt man bei "LIK" und gerät über der Frage, welche wert wären, übersetzt zu werden, in Streit mit Zacharieva. Alek Popov? Der ist doch Popliteratur. Stefan Zanev? Der hat schon unter den Kommunisten sehr gut davon gelebt, kritisch zu sein. Daran hat sich seither nichts geändert.

Einer, der es bereits zu einem Buch auf Deutsch gebracht hat, ist der 1968 geborene Georgi Gospodinov. Mit dem Erzählungsband "Gaustín oder Der Mensch mit den vielen Namen" ist er in der verdienstvollen Reihe "Edition Zwei" bei Wieser vertreten. Der Klagenfurter Verlag ist es auch, der 150 Jahre "Bulgarien Prosa" in ein Buch gefasst hat. Eröffnet wird der 700-Seiten-Band mit einem Text Ivan Vasovs (1850 bis 1921). Der ist für die Bulgaren Luther und Goethe in einem. Mit seinem Hauptwerk "Unter dem Joch" hat er das Bulgarische als Sprache entwickelt. "Wenn ich Mut in der Sprache suche, lese ich ein Gedicht von ihm", sagt die Leiterin des Ivan-Vasov-Museums Mirela Ivanova. Sie lebt mit Vladimir Zarev, der im nächsten Jahr einen Roman auf Deutsch herausbringen wird, und sitzt an ihrem Arbeitsplatz unter einer Büste des Nationaldichters. Ob man als Frau in Bulgarien im Schatten großer Männer steht? Mirela Ivanova lacht: "Mann macht Dreck, und Frau macht Dreck weg." Dass Frauen berufstätig sind, ist hier schon lange üblich, allerdings auch, dass sie daneben den Haushalt machen. Auch daran hat sich nichts geändert.

Es hat sich überhaupt wenig geändert in Bulgarien. Noch immer stehen Ordnungshüter mit Maschinenpistolen an Straßenecken und winken einen Kleinbus mit Ausländern unvermittelt heran. Nur, dass sie jetzt Pannenwarnwesten über der Uniform tragen. Noch immer schauen Kellner scharf an Gästen vorbei, um nicht etwa Bestellungen aufnehmen zu müssen. Und noch gibt es keine Einzelfahrscheine, sondern nur fünf Stück auf einmal, die der Reihe nach entwertet werden müssen. Bulgarien deshalb Freilichtmuseum des Spätkommunismus zu nennen wäre unfair, denn es gibt sie schon, die Privatisierungen. Auf Bulgarisch lief das so, dass die Bewohner der Plattenbausiedlungen in Sofia gezwungen wurden, ihre Wohnungen zu kaufen. Für die Häuser ist seither niemand mehr zuständig. Nun werden Fassaden nur bis zur Wohnungsgrenze gestrichen. So bekommen die tristen Wohnsilos fröhliche Muster. Außen wird privat renoviert, drinnen wird kollektiv gehungert.

Und das auch zwischen den Gebäuden. Denn dort errichten die Roma ihre Baracken. Zwischen 60.000 und 150.000 sollen es in Sofia sein. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand. Auch nicht, wie dem aufkommenden Hass auf sie zu begegnen ist. Noch ist Baj Ganju allgegenwärtig in Bulgarien. Noch ist es weit vom Balkan nach Brüssel. Doch die Gebildeten setzen all ihre Hoffnung auf die EU. Wenn die Bulgaren einmal dort angekommen sein werden, dann ist vielleicht die Zeit gekommen, die Rumjana Zacharieva voraussagt, eine Zeit nämlich, in der nicht mehr die Menschen aus dem Osten in den Westen flüchten, sondern umgekehrt die Westler im Osten Zuflucht suchen.

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