Die Nacht des 9. November 1938 – die neue Dimension der nationalsozialistischen Gewalt gegenüber Juden. Ein Pogrom vor den Augen der ganzen Welt.
Was in der Nacht vom 9. November 1938 geschehen ist, findet in der (deutschen) Geschichte nichts Vergleichbares. Nicht davor und nicht danach. Nie zuvor standen hunderttausende wehrlose Juden einer derart aufgehetzten Bevölkerung gegenüber und mussten die Zerstörung ihrer Synagogen, Geschäfte und Wohnungen, Schläge und Demütigungen, Mord und willkürliche Verhaftung erleiden. Zum ersten Mal wurde das staatliche Gewaltmonopol ganz offen in die Hände einer antisemitischen „Volksgemeinschaft“ gelegt.
Das ist nicht mit den eruptiven Bluttaten aufgrund kollektiver Psychosen und staatlicher Schwäche im Mittelalter zu vergleichen. Aber auch nicht mit dem industrialisierten Massenmord in den Vernichtungslagern, der bewusst nicht vor den Augen der Bevölkerung vollzogen wurde. Das hohe Potenzial an Gesetzlosigkeit und Brutalität, das in der nationalsozialistischen Bewegung steckt, zeigt sich in Deutschland ab 1933, in Österreich spätestens ab März 1938. Die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich wird boykottiert, diskriminiert, drangsaliert. Eine weitere Eskalation kann sich fast niemand vorstellen. Der 9. November 1938 ändert dann alles.
Zwei Tage davor hat ein desperater jüdischer Jugendlicher namens Herschel Grynszpan den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris niedergeschossen. Seine Gründe: Wut über die Deportation seiner Eltern und Unterdrückung seiner Glaubensgenossen. Vom Rath stirbt an den Folgen des Attentats, von nun an ist er willkommener Märtyrer, Staatsbegräbnis inklusive.
NSDAP mobilisierte bis in Dörfer
Man hat den Eindruck, dass der NS-Apparat geradezu auf ein Ereignis wie dieses gewartet hat. Die Reaktion ist Propaganda pur: Ein vom Weltjudentum gegen alle nicht jüdischen Völker angezetteltes Komplott stecke dahinter. Die nun folgende Pogromnacht des 9.November, in der nach NS-Propaganda die „berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes“ losbricht, wird oft als „Reichskristallnacht“ bezeichnet, ein beschönigend-zynischer Begriff, als wären nur Geschirr und Kronleuchter zu Bruch gegangen.
Auslöser ist eine Brandrede von Goebbels um 22 Uhr vor Parteifunktionären in München, die als mündliche Weisung sofort richtig verstanden wird. Die Partei will nicht Urheberin der Verwüstungen sein, steckt aber dahinter. Lokale NSDAP- und SA-Verbände werden telefonisch bis in kleinste Dörfer mobilisiert und schlagen im „Räuberzivil“ los. Hauptziel der Angriffe: die Synagogen und Gebetshäuser. Sie werden geplündert und angezündet, die Feuerwehr schützt nur Nachbarhäuser, die Polizei schaut zu. Dann geht es gegen Geschäfte und Wohnungen. Jugendliche gehen mit Sadismus und Entschlossenheit vor. Die Gewalttäter können ungestört agieren, die nicht beteiligte Bevölkerung ist zum Teil eingeschüchtert, oft aber schaulustig und schadenfroh. Kaum jemand hilft dem jüdischen Nachbarn. In Wien ist es wie schon in den Anschlusstagen nicht schwer, die latente Aggressivität der Bevölkerung gegen Juden anzuheizen. Trotz aller Organisierung hat hier die Gewalt wie bereits im März den Charakter eines unkontrollierten Ausbruchs von Volksantisemitismus.
Bis zu 1500 tot, 1406 Synagogen brennen
Für viele Zeugen ist diese Nacht des 9.November ein unbeschreibliches Chaos, sie verkennen die Systematik, mit der anhand von Listen jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört und Personen für die Deportation selektiert werden. Die Bilanz im gesamten Deutschen Reich: 1406 Synagogen angezündet, 7500 jüdische Geschäfte geplündert, mindestens 177 Wohnhäuser zerstört, 1300 bis 1500 Todesopfer, wenn man die in dieser Nacht Verschleppten und in den Selbstmord Getriebenen hinzuzählt, 30.000jüdische Männer kommen in Konzentrationslager. In Wien legt Gauleiter Odilo Globocnik so Bilanz: Eigentum im Wert von 25Millionen Reichsmark beschlagnahmt, Wohnungen für Parteigenossen gewonnen, 4000Geschäfte gesperrt, der arische Handel könne gesunden. Hitler will in diesen Jahren nicht als Initiator von Gewalt aufscheinen, aber ohne seine Billigung wäre das Pogrom nicht zustande gekommen. Nicht alle in der Partei begrüßen die Eskalation, nicht aus humanitären Gründen, sondern wegen der „volkswirtschaftlich unsinnigen Zerstörung von Sachwerten“.
Nach dem 9.November 1938 beruhigt sich die Lage für die deutschen Juden nicht mehr. Das Datum markiert den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Vertreibung – und schließlich Ermordung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)