Die jüdische Bevölkerung beklagt eine Zuspitzung. Drei von vier in der Europäischen Union lebenden Juden glauben, dass Antisemitismus in ihrem Land im Laufe der vergangenen fünf Jahre zugenommen hat.
Wien. „Ich mache mir heute viel größere Sorgen über Antisemitismus als noch vor 30 Jahren. Etwas, das aus der sozialen Akzeptanz verschwunden sein sollte, wird stattdessen stärker.“ Die 55-jährige Jüdin aus Großbritannien ist mit diesem Gefühl nicht allein. Drei von vier in der Europäischen Union lebenden Juden glauben, dass Antisemitismus in ihrem Land im Laufe der vergangenen fünf Jahre zugenommen hat. In Frankreich und Ungarn sind sogar 88 bzw. 91 Prozent dieser Meinung.
Das ist das Ergebnis einer groß angelegten Befragung der Europäischen Grundrechteagentur (FRA), die gestern in Wien präsentiert wurde. Erstmals liegen damit vergleichbare Daten zu Erfahrungen und Wahrnehmung der jüdischen Bevölkerung bezüglich antisemitischen Gewalttaten, Belästigungen und Hassreden vor. Befragt wurden 5847 Personen in jenen acht EU-Mitgliedstaaten, in denen 90 Prozent der Juden in der EU leben: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Lettland, Schweden, Ungarn und Großbritannien.
Dass zwei Drittel der Befragten Antisemitismus als sehr großes oder großes Problem in ihrem Land beurteilen, ist angesichts der Einzelergebnisse wenig verwunderlich: Immerhin 21 Prozent erlebten in den zwölf Monaten vor der Erhebung antisemitische Vorfälle wie Beschimpfung, Belästigung oder körperliche Angriffe. Allerdings meldete nur etwa ein Viertel der Betroffenen diese Angriffe der Polizei oder einer anderen Behörde – in Ungarn waren es sogar nur neun, in Deutschland hingegen 28 Prozent. „Das zeigt den Mangel an Interaktion und Vertrauen in die Polizei“, gibt FRA-Direktor Morten Kjaerum zu bedenken. Speziell für die Exekutive müsse es Weiterbildungen geben. Am weitesten verbreitet sind feindselige Äußerungen gegenüber Juden im Internet, gefolgt von den Medien und Angriffen an öffentlichen Orten.
Kinder als Opfer
Die Angst, selbst Opfer von Belästigungen (44%) oder körperlichen Angriffen (33%) zu werden, wiegt aber weniger schwer als die Angst, dass dies Familienmitglieder treffen könnte. Zwei Drittel der jüdischen Eltern und Großeltern sind besorgt, dass ihre Kinder in der Schule oder auf dem Weg dorthin Opfer antisemitischer Attacken werden könnten.
Serge Cwajgenbaum, Direktor des jüdischen Kongresses in Europa, zieht angesichts der Studienergebnisse ein klares Resümee: „Wenn Europas Politiker diese Entwicklung nicht durch neue Gesetze stoppen, werden viele Juden Europa den Rücken kehren.“ Schon heute sind es fast 30 Prozent, die zumindest einmal an Auswanderung gedacht haben. „Eine unabhängige Studie hat nun den Beweis geliefert, dass unsere Bedenken nicht unbegründet sind.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)