Brüssel wird die deutsche Wirtschaft auf Ungleichgewichte untersuchen. Hauptanlass dafür sind die deutschen Exporterfolge, die sich in einer deutlich positiven Leistungsbilanz manifestieren.
Brüssel/Berlin. Exportweltmeister Deutschland muss zur Dopingkontrolle: Die EU-Kommission hat am Mittwoch ein Verfahren zur Untersuchung von möglichen Ungleichgewichten in der deutschen Volkswirtschaft eingeleitet, und im Mittelpunkt dieser Ermittlungen steht der Überschuss in Deutschlands Leistungsbilanz – der in Zahlen gegossene Beweis der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen.
Das Prozedere ist Teil des sogenannten Europäischen Semesters, also der verstärkten wirtschaftlichen Koordinierung, die sich die EU im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise verordnet hat. Insgesamt wird die Kommission bis Frühjahr 2014 16 EU-Mitglieder untersuchen: 13 davon hatte Brüssel bereits im Visier, nun kommen Luxemburg, Kroatien und Deutschland hinzu – Österreich bleibt verschont. Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Währungskommissar Olli Rehn gaben sich gestern alle Mühe, den Eindruck zu zerstreuen, man wolle Berlin für seine Erfolge bestrafen. „Europa braucht mehr Länder wie Deutschland“, betonte Barroso, während Rehn den „deutschen Wachstumsmotor“ lobte und eine Untersuchung „ohne Voreingenommenheit“ versprach. Es gehe nicht darum, Deutschland zu fesseln, sondern zu ermitteln, wie die größte Volkswirtschaft der Union die ökonomische Heilung der EU unterstützen könne.
Der EU-Bericht weist für Deutschland vier Problemfelder auf, von denen drei – Wechselkursschwankungen, Verlust von Marktanteilen im Export, Staatsschuld – de facto nebensächlich sind. Der eigentliche Grund für die vertiefte Prüfung ist das Saldo der Leistungsbilanz: Demnach lag der Überschuss seit 2007 konstant über dem EU-Schwellwert von sechs Prozent des BIPs, 2013 soll er sieben Prozent betragen. „Die Dynamik der externen Position Deutschlands erfordert eine vertiefte Untersuchung der Bedeutung binnenwirtschaftlicher Faktoren [...] für die Leistungsbilanz“, heißt es in dem Report. Die Brüsseler Experten finden es etwa eigenartig, dass Konsum und Investitionen trotz der EU-weit zweitniedrigsten Verschuldung des Privatsektors zu wünschen übrig lassen. Genau dieses Argument greift Barroso auf: „Deutschland ist der größte Gewinner des Binnenmarkts.“ Daher sei es nur fair, dass Berlin nun seinen Dienstleistungssektor liberalisiere, um Löhne und Verbrauch anzukurbeln und dadurch anderen EU-Mitgliedern unter die Arme zu greifen.
Die Ankündigung der Brüsseler Behörde folgt auf die scharfe Kritik des US-Finanzministeriums, das Deutschland im Oktober vorgeworfen hat, zu viel globale Nachfrage an sich zu raffen. Die deutsche Reaktion auf die Prüfung fällt heftig aus. Von einem „unglaublichen Affront“ spricht der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber.
Die deutsche Sicht ist klar: Es sei absurd und gefährlich, die Starken für ihren Erfolg zu bestrafen. Reallöhne legt nicht der Staat, sondern legen autonome Tarifparteien fest. Sie haben zwischen 2000 und 2007 durch moderate Abschlüsse frühere Übertreibungen korrigiert. Seit 2008 liegen die Reallohnsteigerungen über dem Produktivitätsfortschritt. Der Vorsprung braucht sich auf, der Binnenkonsum gewinnt an Bedeutung. In Prognosen für 2014 wachsen die Importe sogar stärker als die Exporte.
„Einfach Glück“ bei Autos
Warum ist die deutsche Exportwirtschaft weiter erfolgreich? Im Maschinenbau liegt es an überlegenen Produkten. Bei den Autos, die „gar nicht so innovativ sind“, haben die Deutschen zurzeit „einfach Glück“, dass die Schwellenländer ihre Luxuskarossen so stark nachfragen, schränkt der Ökonom Lars Feld ein. Er ist einer der fünf Wirtschaftsweisen, die am Mittwoch ihr Jahresgutachten präsentiert haben. Auch sie sehen ein Problem, aber nur in der Verwendung der Exporterlöse. Sie werden vor allem in Finanzkapital angelegt, zu einem Gutteil im Ausland. Erst dadurch kommen starke Ungleichgewichte zustande. Besser wäre es, die Deutschen würden im Inland, in ihre Firmen oder in den Wohnbau investieren. Dabei kämen auch europäische Lieferanten zum Zug, die Importe würden stärker steigen. Aber die Privatinvestitionen ziehen nur zögerlich an. Das liege an der Politik. Hohe Stromkosten, mögliche Steuererhöhungen, eine Kehrtwende bei Reformen: All das sorge für Unsicherheit – und sie ist Gift für Investitionen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)