Gastkommentar

Vom ersten und vom zweiten Russland

Peter Kufner
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Selten standen sich die beiden Teile Russlands so gegensätzlich gegenüber. Während Moskau und Sankt Petersburg ihre Isolation vom Rest der Welt beklagen, übernehmen die Provinzen Putins Botschaft der Feindseligkeit.

Der ehemalige Polizeibeamte Sergej Chadschikurbanow wurde 2014 wegen seiner Rolle bei der acht Jahre zuvor erfolgten Ermordung von Anna Politkowskaja, einer Enthüllungsjournalistin der liberalen Zeitung „Nowaja Gaseta“, zu 20 Jahren Haft verurteilt. Jetzt, nach nur neun Jahren Haft, wurde Chadschikurbanow begnadigt, nachdem er sechs Monate lang im Krieg des russischen Machthabers, Wladimir Putin, in der Ukraine gekämpft hatte. Für Putin ist Chadschikurbanow damit ein Patriot.

Chadschikurbanow ist bei Weitem nicht der einzige Gewaltverbrecher, der in Russland begnadigt wurde, indem er sich Putins Armee in der Ukraine anschloss. Kein Geringerer als Jewgenij Prigoschin, der zwei Monate nach dem gescheiterten Aufstand seiner Söldnergruppe Wagner im Juni bei einer Flugzeugexplosion ums Leben kam, stand Pate für diese Praxis.

Vergebung für Gewalttäter

Trotz seines unrühmlichen Endes war Prigoschin lange Zeit ein wichtiger Verbündeter Putins. Er betrieb unter anderem eine Trollfabrik, um russische Propagandageschichten zu verbreiten, und schickte seine Wagner-Söldner in afrikanische Länder; teilweise, um Zugang zu Ressourcen wie Gold und Uran zu erhalten, oft im Austausch für den Schutz des Lebens und der Interessen lokaler Führer. Wagner-Söldner wurden auch im Ukraine-Krieg eingesetzt, wo sie in einigen der blutigsten Schlachten kämpften, etwa in der monatelangen Schlacht um Bachmut.

Bevor er sein Glück bei Putin suchte, war Prigoschin ein verurteilter Krimineller, der in den 1980er-Jahren wegen Raubes und Körperverletzung neun Jahre im Gefängnis saß. Kein Wunder, dass er Kriminelle für die Wagner-Gruppe rekrutierte – eine Praxis, die inzwischen auch das russische Verteidigungsministerium übernommen hat.

Obwohl die offizielle Zahl der verurteilten Soldaten nicht bekannt ist, wissen wir, dass im März dieses Jahres mehr als 5000 Kriminelle begnadigt wurden, nachdem sie ihre Verträge als Kämpfer für die Wagner-Armee erfüllt hatten. Nach Angaben von Prigoschin waren rund 40.000 Strafgefangene an der Schlacht um Bachmut beteiligt. Viele der begnadigten Kämpfer blieben in der Armee, aber einem guten Dutzend gelang es, von der Front nach Hause zurückzukehren.

Einige hatten grausame Taten begangen. Ein begnadigter Kämpfer tötete seine Freundin und steckte ihre Leiche in einen Fleischwolf; ein anderer stach seiner Exfrau zehnmal in den Bauch; ein „Patriot“ filmte sich dabei, wie er seinen Freund zu Tode prügelte, als wäre es ein Scherz. Aber schon nach wenigen Monaten an der Front werden ihnen ihre Gewalttaten vergeben. Manche sollen nach ihrer Rückkehr neue Gewaltverbrechen begangen haben, darunter Vergewaltigung und Mord.

Kriminelle als Helden

Selbst loyale Anhänger Putins sind mit den Bemühungen des Kreml, Kriminelle zu Helden zu machen, nicht ganz einverstanden. Im vergangenen Jahr geriet der Gouverneur der Region Swerdlowsk, Jewgenij Kujwaschew, mit Prigoschin aneinander, nachdem ein örtlicher Verein sich geweigert hatte, die Beerdigung eines toten Wagner-Söldners auszurichten. „Wenn er ein echter Soldat gewesen wäre, wäre das in Ordnung, aber er war nur ein ehemaliger Strafgefangener“, betonte der Verein.

Die Begnadigung von Gewaltverbrechern ist vielleicht kein besonders wünschenswertes Mittel, um mehr Soldaten aufs Schlachtfeld zu schicken, aber für Putin wäre die Alternative noch schlimmer. Die „Teilmobilisierung“ im vergangenen Jahr hat eine heftige Gegenreaktion ausgelöst, und Putin hat Angst vor einer Wiederholung. Er weiß auch, dass es zwei Arten von Russland gibt, und dass beide bekommen, was sie wollen, wenn der Kreml weiterhin Sträflinge schickt.

Das erste Russland, bestehend aus den Bewohnern der beiden größten Städte, Moskau und Sankt Petersburg, kann so tun, als gäbe es gar keinen Krieg. In einer Buchhandlung wie Respublika in Moskau findet man amerikanische und britische Bestseller, aber auch Werke von russischen Autoren, die vor dem Regime geflohen sind, wie Boris Akunin und Dmitri Bykow.

Die zerbrechliche Realität

In einem Kino am Newski-Prospekt in Sankt Petersburg kann man sich die amerikanischen Blockbuster „Barbie“ und „Oppenheimer“ ansehen, ohne dass ein Hinweis darauf zu finden wäre, dass die Behörden diese Filme verboten haben, weil sie „nicht den traditionellen russischen Werten entsprechen“.

Die Menschen in diesem Russland sind sich der Zerbrechlichkeit ihrer Realität durchaus bewusst. Als ich ein junges Paar, das sich den Film „Oppenheimer“ angesehen hatte, fragte, was denn traditionelle russische Werte seien, antworteten die beiden, das wisse niemand so genau. Aber sie anerkannten auch die Grenzen ihrer Macht, ihre Realität zu verändern, bevor sie zugaben, dass das Theater bald wegen „Dissidenz“ geschlossen werden könnte.

Dann gibt es noch das andere Russland, das Russland der kleinen Städte und Dörfer, die über das riesige Territorium des Landes verstreut sind. Hier ist der Krieg in der Ukraine eine Quelle des patriotischen Stolzes, und jeder, der sein Leben für den Sieg riskiert, verdient es, geehrt zu werden.

Auf einer kürzlich unternommenen Reise in die sibirische Region Omsk erzählte mir ein Ehepaar überglücklich von seinem Soldatensohn: „Er hat für sein Land gekämpft“, schwärmte die Mutter, „er hat einen Orden bekommen. Und mit dem Geld, das er verdient hat, hat er uns einen Urlaub auf der Krim ermöglicht.“ Das Ehepaar erwähnte nicht, dass der Sohn, bevor er zum „Helden“ wurde, fast sein ganzes Leben lang immer wieder im Gefängnis saß.

Mit Blut Buße tun

Für sie spielt das wohl keine Rolle. In Russland, das hat der Kreml klargestellt, kann man „mit Blut sühnen“. Aber auch mit Geld. In der Region Omsk erhalten junge Männer – keine Strafgefangenen – 195.000 Rubel (2200 US-Dollar) allein für ihre Einberufung. Wenn sie sterben, erhalten ihre Familien mehr als 100.000 US-Dollar Entschädigung. Wenn sie zurückkehren, können sie Häuser, Autos und vieles mehr kaufen. Der wirtschaftliche Aufschwung ist in jedem Fall beträchtlich.

Russlands Dualität ist nicht neu. Das Staatssymbol ist der doppelköpfige Adler. Doch selten standen sich die beiden Teile Russlands so gegensätzlich gegenüber. Während Moskau und Sankt Petersburg ihre Isolation vom Rest der Welt ­beklagen, übernehmen die Provinzen Putins Botschaft der Feindseligkeit gegenüber allem „Nicht-Russischen“.

Je länger der Krieg wütet, desto mehr wird sich dieses Gefühl auch außerhalb der größten Städte Russlands durchsetzen. Wenn die Außenwelt gegen uns ist, betonen die Provinzen, werden wir unsere große Nation vor denen schützen, die sie schwächen wollen. Aber niemand in der Außenwelt kann Russland gravierender schwächen als die wachsende Zahl der von Putin begnadigten Patrioten.

Übersetzung: Andreas Hubig
Copyright: Project Syndicate, 2023.
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Die Autorin

Nina L. Chruschtschowa (geboren 1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin an der New School.

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