Mein Dienstag

Entfesselt

Daisy Edgar-Jones als Kya in dem Film „Der Gesang der Flusskrebse“.
Daisy Edgar-Jones als Kya in dem Film „Der Gesang der Flusskrebse“.Sony
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Zu sehen, wie jemand sich selbst von Neuem kennenlernt und über sich hinauswächst, gehört zu den unwiderstehlichsten Erfahrungen, die das Leben zu bieten hat.

Es gibt da diese Szene in dem Film „Der Gesang der Flusskrebse“ (2022). Kya (Daisy Edgar-Jones) spaziert auffällig geschminkt und gekleidet zum Busbahnhof, um die Stadt zu verlassen. „Sie in dieser Aufmachung nicht zu bemerken, war unmöglich“, sagt eine Anrainerin in abfälligem Ton gegenüber der Polizei. Und vollendet damit unbewusst Kyas genialen Plan, sich von ihren Fesseln, Ketten und Knebeln zu befreien.

Ihr aufgesetztes, gleichzeitig aber aus ihrem tiefsten Inneren kommendes Lächeln, als sie in den Bus steigt, ist der Schlussakt einer außergewöhnlichen Entwicklung und das Symbol für die Ermächtigung einer jungen Frau, die bis dahin im Verborgenen blühte. Wer den Film gesehen hat, weiß genau, was ich meine. Was für eine bemerkenswerte, geradezu unglaubliche Verwandlung, die im wirklichen Leben nicht allzu häufig zu beobachten ist.

Umso kostbarer ist die Erfahrung, erste Reihe fußfrei Zeuge einer solchen Metamorphose zu werden. Zu sehen, wie durch eine schicksalhafte Begegnung das wahre Wesen und Naturell einer Person zum Vorschein kommt. Wie sie vergessene, verdrängte oder ausgeblendete Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte wiedererkennt und sie sich zurückholt – bestimmt, entschlossen und kompromisslos. Wie sie anfängt, sich anders auszudrücken, anders zu kleiden und anders zu bewegen – so anmutig, so elegant, so stilsicher. Wie sich ihre gesamte Gestik und Mimik ändert. Wie sie die Perspektive wechselt und Gewohnheiten infrage stellt. Wie sie über sich hinauswächst, sich nach der Decke streckt, zu neuem Selbstwertgefühl findet und eine magische Aura entwickelt, die auch auf ihre Umgebung ausstrahlt.

Natürlich ist sie immer noch dieselbe Person, aber in einer ganz neuen Version von sich. Einer Version, die ihrer Intuition mehr Bedeutung beimisst und ihrem Bauchgefühl stärker vertraut. Die spürt, dass sie emotional und kognitiv ihr Potenzial nicht ausgeschöpft hat. Die sich löst von Konventionen, Normen und Netzen, um ihrem Herzen zu folgen und das zu tun, was sie schon immer tun wollte und was irgendwie auch ihre Bestimmung ist: nämlich wild und frei zu leben.

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