Gastkommentar

Deutschlands Erfolg gegenüber Nicaragua ist nur partiell

Das humanitäre Völkerrecht wird im Gazastreifen aufs Extremste herausgefordert. Das zeigen auch jüngste Verfahren.

Erleichterung in Deutschland über die Abweisung des Eilantrags Nicaraguas gegen Deutschland am 30. April 2024: Der Internationale Gerichtshof (IGH) sah die Voraussetzungen für eine solche Sofortmaßnahme nicht gegeben.

Dennoch ist der Erfolg Deutschlands nur ein partieller: Das Verfahren in der Hauptsache, in der Nicaragua – ein Land, das weltweit auf den hintersten Rängen platziert ist, wenn es um Fragen des Menschenrechtsschutzes, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit geht – Deutschland vorwirft, Beihilfe zu Völkermord in Gaza zu leisten, kann fortgesetzt werden. Zudem offenbart der betreffende IGH-Beschluss eine bemerkenswerte Offenheit für Eilanträge gemäß Art. 41 des IGH-Statuts, die der Funktion und der Wirkungsweise der internationalen Gerichtsbarkeit eine neue Gestalt geben könnte, sollte dieser Ansatz fortgeführt werden.

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Eilanträge sind in Verfahren vor dem IGH – wie in nationalen Verfahren übrigens auch – nicht unproblematisch und dies liegt in der Natur der Sache: Noch vor einer umfassenden Beweisaufnahme und Anhörung der Parteien muss eine Entscheidung getroffen werden, die die streitigen Rechte sichert, nachdem gerade Verfahren vor dem IGH viele Jahre dauern können. Gleichzeitig dürfen die betreffenden Entscheidungen aber jene in der Hauptsache nicht präjudizieren. Bei derart widerstreitenden Interessen einen umfassend überzeugenden Kompromiss zu finden, ist oft schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Die vielen Eigenheiten der internationalen Gerichtsbarkeit erhöhen zusätzlich die Komplexität dieser Herausforderung, ist die Gerichtsbarkeit des IGH doch umfassend vom Konsens der Streitparteien abhängig. Die Zustimmung aber, an die Gerichtsbarkeit des IGH gebunden zu sein, ist vielfach eingeschränkt und in zahlreichen Fällen überhaupt nicht gegeben. Eine umfassende Rechtsprechung des IGH hat bislang sichergestellt, dass dieses Konsensprinzip nicht über Klagen gegen allein indirekt involvierte Parteien umgangen wird (das sogenannte „Monetary-Gold-Prinzip“).

All diese Vorbehalte und Regeln scheinen gegenwärtig nicht mehr aufrecht zu sein. Wie insbesondere die Vizepräsidentin des IGH, Julia Sebutinde, in ihrem Sondervotum hervorgehoben hat, ist nicht ersichtlich, worauf denn die Gerichtsbarkeit im betreffenden Fall überhaupt gründen soll. Tatsächlich setzt ein Verfahren wegen Beihilfe zum Völkermord voraus, dass Völkermord überhaupt vorliegt und festgestellt worden ist, was hier nicht der Fall ist. Darüber wird in einem gesonderten Verfahren, angestrengt von Südafrika gegen Israel, beraten. Im letztgenannten Verfahren hat der IGH am 26. Januar 2024 einem Eilantrag Südafrikas stattgegeben, wenngleich nicht mit dem von Südafrika geforderten Inhalt. Der IGH hat dieses Verfahren maßgeblich dazu genutzt, Israel zu ermahnen, die Regeln des humanitären Völkerrechts einzuhalten.

Missbräuchliche Eilverfahren

In der Völkerrechtsliteratur wurde in der Vergangenheit wiederholt auf die Gefahr hingewiesen, dass Eilverfahren missbräuchlich Anwendung finden können, dass damit die Reputation von Staaten beschädigt werden kann, auch wenn in der Hauptsache die Anschuldigungen abgewiesen werden. Um dies zu vermeiden, hat der IGH eine Reihe von Kriterien entwickelt, insbesondere um die Plausibilität des Anspruchs zu garantieren. Man muss den Eindruck gewinnen, dass im vorliegenden Fall all diese Kriterien in den Hintergrund gedrängt worden sind.

Dafür können gute Gründe angeführt werden: Das humanitäre Völkerrecht wird im Gazastreifen auf das Extremste herausgefordert. Die Grenzen dieses Rechts werden getestet und wurden wohl schon in vielerlei Hinsicht auch überschritten. Der IGH hat durch eine überaus großzügige Handhabung der Kompetenzen gemäß Art. 41 des IGH-Statuts die Möglichkeit geschaffen, auf höchster internationaler Ebene das Leid der Menschen in dieser Region zu thematisieren und Abhilfe einzufordern. Im vorliegenden Fall war damit eine zumindest implizite Mahnung an waffenexportierende Staaten verbunden, dafür Sorge zu tragen, dass diese Exporte nicht zu einer Verletzung des humanitären Völkerrechts führen. In Bezug auf Deutschland wurden diese Sorgen – auch aufgrund einer strengen nationalen und EU-rechtlichen Exportkontrolle – als unbegründet angesehen, aber das Warnsignal, die gegebenen Schranken strikt einzuhalten, ist dennoch klar.

Israel verliert Verständnis

Den vorliegenden Entscheidungen ist aber auch zu entnehmen, dass das politische Kapital Israels auf internationaler Ebene kein großes mehr ist: Der Feldzug gegen die Hamas in Gaza stößt aufgrund der damit verbundenen zivilen Opfer auf immer größeren Widerstand. Die Notwendigkeit, die Regeln des humanitären Völkerrechts auch im Kampf gegen Terroristen zu achten, auch wenn diese ihrerseits jegliche Regeln dieses Rechts missachten, wird immer deutlicher zum Ausdruck gebracht. Zu diesem Zwecke ist der IGH offenbar bereit, seine bisherige Praxis neu zu deuten. Der IGH hat Deutschland den Erlass eines strengen Exportregimes bescheinigt. Dass nun die nationalen Waffenexportregeln punktuell an den Verpflichtungen aus den Genfer Konventionen zum Schutz des humanitären Völkerrechts gemessen werden, wäre auf jeden Fall ein großer Fortschritt, wobei es allerdings wünschenswert wäre, generelle Maßstäbe dazu zu entwickeln, die auf möglichst breiter Basis – weit über den vorliegenden Sachverhalt hinaus – Anwendung finden können.

Peter Hilpold (* 1965) studierte Rechtswissenschaften, VWL und BWL. Seit 2001 ist er Professor für Völker-, Europa- und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und lehrte auch an anderen Universitäten. Er ist Autor von über 300 wissenschaftlichen Publikationen.

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