Der ökonomische Blick

Rationales Herdenverhalten auf der Autobahn

Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn variiert. Ich richte mich rational nach der „Herde“.
Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn variiert. Ich richte mich rational nach der „Herde“.Clemens Fabry
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Ich verstehe nicht ganz, wie Entscheidungen über die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn getroffen werden, und ich weiß auch nicht genau, ab welchem Punkt die Geschwindigkeitsbegrenzung definitiv 130 km/h beträgt.

Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn südlich von Graz bis zur österreichisch-slowenischen Grenze variiert. Manchmal beträgt das Tempolimit 130 km/h und manchmal 100 km/h. Die Geschwindigkeitsbegrenzung ist auch nicht für die gesamte Autobahnstrecke konstant, und nach einer gewissen Entfernung von Graz ist sie definitiv 130 km/h. Ich verstehe nicht ganz, wie diese Entscheidungen über die Geschwindigkeitsbegrenzung getroffen werden, und ich weiß auch nicht genau, ab welchem Punkt die Geschwindigkeitsbegrenzung definitiv 130 km/h beträgt.

Ich glaube, es hat etwas mit der örtlichen Luftverschmutzung zu tun, es kann also vom Wetter oder den Verkehrsverhältnissen abhängen, aber ich weiß es nicht genau. Zumindest für mich ist das Tempolimit also eine Zufallsgröße, und das gilt wahrscheinlich auch für die meisten anderen. Was soll ich nun tun, wenn ich mich irgendwo auf der Autobahn an einer Stelle befinde, an der ich mir nicht sicher bin, wie hoch die Geschwindigkeitsbegrenzung ist? Ich richte mich rational nach der „Herde“.

Was ist „Der ökonomische Blick“?

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.

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100 oder doch 130 km/h?

Lassen Sie mich das erklären. Um die Leute über das Tempolimit zu informieren, gibt es einige, nicht viele, elektronische Schilder, die von einer zentralen Stelle aus programmiert werden können. Als ich neulich von Graz aus in Richtung Süden fuhr, war ich zunächst nicht im Zweifel über die Geschwindigkeitsbegrenzung. Eines dieser elektronischen Schilder kurz vor Graz zeigte deutlich 100 km/h an. Also habe ich dem Ereignis, dass das Tempolimit 100 km/h beträgt, eine Wahrscheinlichkeit von ziemlich genau 1 beigemessen, und bin dementsprechend gefahren. Wenig später kam ein weiteres dieser Schilder, und dieses Schild brachte meine subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzung des Ereignisses, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung 100 km/h beträgt, wenn überhaupt möglich noch näher an 1 heran, und ich fuhr immer noch entsprechend. Ich fuhr dann noch eine ganze Weile weiter, vielleicht zehn oder 20 Kilometer, ein wenig gedankenverloren, als mir auffiel, dass ich in letzter Zeit kein Tempolimit-Schild gesehen hatte. Hatte ich eines übersehen? Es hätte eines geben müssen, dachte ich, und ich hatte es wahrscheinlich nicht bemerkt. Wie hoch war denn nun die Geschwindigkeitsbegrenzung?

Mir ist auch aufgefallen – und das war möglicherweise der Grund, warum ich meine Einschätzung über die örtlich gültige Geschwindigkeitsbegrenzung überdacht habe –, dass ich von einigen Autos überholt wurde, die ziemlich schnell fuhren. Man muss wissen, dass sich die Fahrer und Fahrerinnen auf den österreichischen Autobahnen im Großen und Ganzen an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Natürlich stimmt das nicht zu 100 Prozent, und man muss das auch berücksichtigen. Aber bei jedem Auto, das, wie ich schätzte, etwa 130 km/h schnell fuhr, als es mich überholte, sank meine subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzung, dass das Tempolimit bei 100 km/h liegt, immer weiter ab.

Nachdem etwa vier oder fünf Autos mit 130 km/h an mir vorbeigefahren waren, war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich dem Ereignis, dass die erlaubte Höchstgeschwindigkeit 130 km/h beträgt, eine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit beimaß, sodass ich ebenfalls 130 km/h fuhr. Ich habe mir auch die Nummernschilder angesehen, denn Autos mit grün-auf-weißen Schildern dürfen schneller fahren (habe ich gehört). Aber die Nummernschilder waren schwarz auf weiß. Ich brauche jetzt nicht unbedingt eine subjektive Wahrscheinlichkeitseinschätzung von 1, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung 130km/h ist, um 130 km/h zu fahren. Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung erwischt zu werden und ein Bußgeld zu bekommen, ist ja jetzt auch nicht so hoch, und ich wollte natürlich lieber früher als später an dem Ort ankommen, an dem ich eben ankommen wollte.

Auch die „Herde“ kann sich verschätzen

Nach ein paar Minuten zügigen Fahrens kam ich dann allerdings am nächsten Geschwindigkeitsschild vorbei, und das zeigte nun doch 100 km/h an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung vorübergehend (ich meine auf dem Autobahnabschnitt, auf dem ich gerade war) 130 km/h betragen hatte, war wohl gering. Hatte ich mich und hatten sich auch die anderen Schwarz-auf-weiß-Nummernschild-Autofahrer und -fahrerinnen also mit meiner, respektive ihrer, Einschätzung verschätzt? Ich würde gerne behaupten, dass ich mich nicht verschätzt habe, weil ich dem Ereignis, dass die Höchstgeschwindigkeit 130 km/h betrug, ja keine Wahrscheinlichkeit von 1 beigemessen hatte. Und möglicherweise haben die anderen das auch nicht getan. Die Frage ist: Haben wir auch berücksichtigt, dass einige der anderen, die 130 km/h fuhren, 130 km/h fuhren, weil sie andere gesehen hatten, die 130 km/h fuhren, und ihre Überzeugung auf einer ähnlichen Grundlage gebildet hatten wie ich? Es ist durchaus möglich (und vielleicht hatten wir das auch berücksichtigt), dass die erste Person, die wir alle mit 130 km/h fahren sahen, dies aus Versehen tat oder weil es ihr einfach egal war. Vielleicht reichte aber schon diese eine Person aus, damit eine zweite Person ihre Überzeugungen so weit änderte, dass sie ihre Geschwindigkeit erhöhte, und das wiederum veranlasste eine dritte und dann eine vierte und schließlich mich, schneller zu fahren.

Alle diese Entscheidungen können als rationale Entscheidungen deklariert werden. Wir ahmten das Verhalten der anderen vor uns nach und dachten rational, dass ihr Verhalten ein Indiz dafür sei, dass die zugelassene Höchstgeschwindigkeit 130 km/h betrug. Oft wäre diese Einschätzung auch richtig gewesen. Im vorliegenden Fall war sie es nicht. Das ist leider etwas, was passieren kann, wenn Menschen das Verhalten anderer rational „herdenweise“ verfolgen.

Daran sollten Sie denken, wenn Sie beispielsweise eine Werbung sehen, in der behauptet wird, dass eine Million Menschen das beworbene Produkt gekauft haben und dass Sie es deshalb auch kaufen sollten. Warum haben die anderen das Produkt gekauft? Vielleicht aus denselben Gründen, aus denen Sie es gerade kaufen wollen? Weil andere es gekauft haben? Möglicherweise steckt in dieser Aussage weniger Information, als Sie denken.

Für diejenigen, die es interessiert: Die Literatur über rationales Herdenverhalten geht mindestens auf den Artikel „A Theory of Fads, Fashion, Custom, and Cultural Change as Informational Cascades“ von Bikhchandani, Hirshleifer und Welch, Journal of Political Economy, 100 (5), 992-1026, aus dem Jahr 1992 zurück und ist immer noch ein aktuelles Forschungsfeld, siehe das NBER-Arbeitspapier No. 28887 „Information Cascades and Social Learning“ von denselben Autoren und Omer Tamuz aus dem Jahr 2021.

Der Autor

Beigestellt

Christoph Kuzmics beschäftigt sich mit der Theorie des strategischen Denkens. Er ist seit 2015 Professor für Mikroökonomik, Universität Graz, davor war er an der Universität Bielefeld. Von 2003 bis 2011 war Kuzmics Assistenzprofessor an der Kellogg School of Management, Northwestern University.

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