Culture Clash

Kulturwandel kann man nur mitgestalten, nicht verbieten

Nach der Hamburger Kalifats-Demo bastelt man an neuen Verbotsgesetzen. Das eigentliche Problem ist aber größer – und sicherheitspolizeilich nicht zu lösen.

Als die revoltierenden Soldaten im Dekabristenaufstand 1825 dazu gebracht wurden, mit dem Schlachtruf „Konstantin i Konstitutia!“ die Krönung Großfürst Konstantins und eine Verfassung zu fordern, sollen sich viele unter „Konstitutia“ Konstantins Ehefrau vorgestellt haben. Vor einiger Zeit haben tausend Demonstranten in Hamburg angeblich ein Kalifat für Deutschland gefordert (eher dürften ihre Plakate „Kalifat ist die Lösung“ dem Nahen Osten gegolten haben), und ich frage mich, wie viele von ihnen eine klare Vorstellung davon haben, was ein Kalifat überhaupt ist.

Haben sie den IS-Führer Abu Bakr vor Augen, der sich selbst zum Oberhaupt aller Sunniten stilisiert hat? Oder eher den letzten noch allgemein anerkannten Kalifen Abdülmecid, den vor 100 Jahren abgesetzten osmanischen Prinzen, der Gründerzeit-Genrebilder gemalt, seinen Sohn nach Wiener Neustadt geschickt und seiner Tochter Pariser Mode gekauft hat, die kaum die Knie bedeckten? Oder eher den in London residierenden Kalifen Mirza Masrur Ahmad aus der Ahmadiyya-Bewegung, die den Islam friedlich zum Sieg führen möchte und in Deutschland als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt ist?

Wer klagt, dass ich brutal bin, kriegt eins aufs Aug!

Wie auch immer: Ich fände es bedauerlich, wenn uns hier einmal ein Kalif sagen würde, wo es langgeht. Es wäre aber auch bedauerlich, würden wir zu einer Gesellschaft mutieren, in der es verboten ist, den Wunsch danach zu äußern. Politiker basteln schon an der Strafbarkeit von Kalifats-Forderungen. Und der innenpolitische Sprecher der CDU hat zu den auf der Demo mitgeführten Schildern „Deutschland = Wertediktatur“ erklärt, wer das behaupte, „der hat bei uns nichts zu suchen und muss das Land so schnell wie möglich verlassen“. Wer klagt, dass ich brutal bin, kriegt eins aufs Aug!

Unsere Kultur scheint dem Zuwanderungstempo nicht gewachsen

Natürlich müssen Verfassungsschützer wachsam Gewalt und Verschwörung verhindern. Aber das eigentliche Problem liegt nicht in ein paar Aufwieglern, die eine selbstbewusste Gesellschaft isolieren und aushalten könnte, sondern darin, dass unsere Kultur immer weniger souveränes und damit anziehendes Selbstbewusstsein vermittelt. Sie scheint in ihrer integrativen Kraft und Attraktivität erlahmt und dem Zuwanderungstempo nicht gewachsen. Das lässt sich aber erst recht nicht bloß sicherheitspolizeilich lösen. Kulturwandel kann man nur mitgestalten, nicht verbieten. Und je vitaler eine Mehrheitskultur ist, desto weniger Zwang hätte sie dazu nötig. Insofern ist die Aufgeregtheit über eine Demo von 0,045 Prozent der Hamburger Bevölkerung ein größeres Alarmzeichen als die Demo selbst.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.