Gastkommentar

Bitte ein Spitzenprogramm statt Spitzenkandidaten

Deutschlands Grüne (u. a. R. Habeck, A. Baerbock) beim EU-Wahlkampf-Kick-off in Berlin am 13. Mai.
Deutschlands Grüne (u. a. R. Habeck, A. Baerbock) beim EU-Wahlkampf-Kick-off in Berlin am 13. Mai.Reuters/Annegret Hilse
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Es braucht transnationale Listen und ein echt europäisches Spitzenprogramm. Themen gäbe es genug, etwa die Zukunft der EU.

Für die Europawahl haben die meisten Fraktionen im Europäischen Parlament (EP) wieder einen Spitzenkandidaten aufgestellt. Die bekannteste dürfte die aktuelle Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sein. Das System ist problematisch – zum Beispiel ist nicht sicher, welche nationalen Parteien am Ende Teil der entsprechenden transnationalen Fraktion im EP sein werden, im Falle von der Leyens etwa der Europäischen Volkspartei (EVP). In Österreich wäre die Wahl der ÖVP theoretisch auch die Wahl von der Leyens, in Ungarn ist das nicht so eindeutig. Eine Rückkehr der Partei von Viktor Orbán in die EVP scheint ausgeschlossen, es ist aber auch unklar, ob er sich der euroskeptischen Fraktion der Konservativen und Reformer (EKR) oder gleich der rechtsextremen Identität und Demokratie (ID) anschließen wird. Beide Fraktionen haben erst gar keine Spitzenkandidatur verkündet.

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Auf den Wahlplakaten sind aber in der Regel nur die nationalen Spitzenkandidaten zu sehen. Das liegt zum einen daran, dass die Spitzenkandidaten der jeweiligen Fraktionen im EP ja von den allermeisten EU-Bürgern gar nicht gewählt werden können. Im Extremfall nicht mal im eigenen Land, wie beim letzten Spitzenkandidaten der EVP, Manfred Weber, der für die CSU antrat und damit nur in Bayern gewählt werden konnte. Und von der Leyen sowie auch Nicolas Schmit (Spitzenkandidat der Sozialdemokraten – S&D) werden dieses Jahr auf den Stimmzetteln gar nicht auftauchen.

27 parallele Wahlen

Die Wahlen zum EP sind eigentlich 27 parallele Wahlen mit nationalen Unterschieden bei Sperrklausel, Wahldatum und Wahlalter. Ja es sind sogar unterschiedlich viele Stimmen notwendig, um ein Mandat zu erreichen, da die Sitze im Parlament zwar nach Größe des Landes, aber nicht direkt proportional verteilt sind (Deutschland hat 96, Österreich kommt auf 20). Das Spitzenkandidatensystem kann dieses Demokratiedefizit nicht beseitigen. Vielmehr braucht es transnationale Listen und ein echt europäisches Spitzenprogramm. Themen gäbe es genug, zum Beispiel die Zukunft der EU.

Erweiterung ging in der Geschichte der Europäischen Integration häufig mit einer Vertragsreform einher. An einem bestimmten Punkt haben wir aber diese Vertiefung von der Erweiterung entkoppelt. Jean-Claude Juncker sagte zu Beginn seiner Kommissionspräsidentschaft, dass es in seiner Amtszeit keine Erweiterung geben wird. Es ist schon befremdlich, wenn man am Anfang sagt, was am Ende nicht passieren wird. Sollte man nicht lieber darüber sprechen, was geschehen soll?

In Junckers Amtszeit fiel auch der Brexit. Der beste Zeitpunkt, um über Reformen zu sprechen, wäre eigentlich unmittelbar danach gewesen. Die durch den Brexit frei gewordenen Sitze im EP hätten beispielsweise zur Einführung transnationaler Listen genutzt werden können. 2023 schlug das EP vor, 28 Sitze an transnational gewählte Kandidaten zu vergeben. Die Wähler hätten bei den EU-Wahlen also zwei Stimmen: eine für Abgeordnete in ihren nationalen Wahlkreisen und eine zusätzliche Stimme für Abgeordnete in einem EU-weiten Wahlkreis. Transnationale Kandidaten bräuchten eine Vision für die gesamte EU und könnten sich nicht auf nationale Themen beschränken, um in möglichst vielen Mitgliedstaaten Zustimmung zu erlangen. Ein Wahlkampf, der zunehmend über die eigenen Grenzen hinausgeht, würde langfristig die Entstehung paneuropäischer Parteien fördern. Doch die Chance wurde nicht genutzt.

Was ist notwendig?

Der zweitbeste Zeitpunkt für eine Vertragsreform hätte sich im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas angeboten. Der Prozess lief ein ganzes Jahr lang, wenige haben das überhaupt mitbekommen, was vielleicht auch daran lag, dass Ursula von der Leyen den Prozess zwar initiierte, aber dann nicht wirklich sagte, was damit geschehen soll. Warum führte es nicht in einen Konvent, um über eine Vertragsreform zu sprechen?

Dritte und vielleicht letzte Chance wäre nun also nach der Europawahl. Was ist notwendig? Mutige Schritte und ein wenig Perspektive. Nicht nur endlich für die sich seit über zwei Jahrzehnten im Warteraum befindlichen Länder des Westbalkans, sondern allgemein: Die Gesamtbevölkerung von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien sowie Serbien und den jüngsten Kandidatenstaaten Georgien, Moldau und Ukraine beträgt gemeinsam rund 67 Millionen und damit etwa genauso viele, wie das Vereinigte Königreich hat.

Natürlich gibt es Unterschiede: Die Aufnahme von neun neuen Staaten bedeutet neun zusätzliche mögliche Vetos in Entscheidungen; zudem haben diese Länder gemeinsam auch nur knapp ein Zehntel der Wirtschaftsleistung des ehemaligen EU-Mitglieds Großbritannien. Doch wenn man in die Geschichte zurückblickt, dann sind bei den allermeisten Erweiterungsrunden nicht wirtschaftliche Gründe im Vordergrund gestanden, sie haben vielmehr der Stabilisierung von Demokratien gedient. Mit einer Vertragsrevision könnte man auch die Institutionen auf weitere Vetospieler im Entscheidungsfindungsprozess vorbereiten, etwa, indem die Einstimmigkeit abgeschafft wird.

Früher dauerten Beitrittsverhandlungen im Schnitt rund dreieinhalb Jahre, ein Beitritt erfolgte spätestens nach zwei Jahren. Der durch mehrere negative Referenden alles andere als einfache Weg vom Vertrag von Nizza bis zum Vertrag von Lissabon dauerte ebenfalls fünfeinhalb Jahre. Eine Erweiterung inklusive neuen Vertrags wäre also innerhalb der fünfjährigen Amtszeit einer Kommission durchaus machbar, wenn der entsprechende Mut und Wille auch bei den Regierungen vorhanden wäre. Dazu zählt auch eine ehrliche Rechnung aufzumachen, statt immer nur vom Nettozahler zu sprechen.

Natürlich wird es immer Länder geben, die mehr in den Haushalt einzahlen. Deutschland trägt doppelt so viel zum EU-Haushalt bei wie Frankreich, profitiert aber auch doppelt so stark von der Zugehörigkeit zum Binnenmarkt und erhält darüber ein Vielfaches zurück – Letzteres ist in Österreich nicht anders.

Die Angst lähmt den Prozess

Der in vielerlei Hinsicht absolut erfolgreichen größten Erweiterungsrunde vor 20 Jahren ging eine Diskussion über die Angst vor dem polnischen Klempner voraus – viele der Sorgen haben sich im Nachhinein nicht bewahrheitet. Heute haben polnische Bauern Angst vor dem ukrainischen Weizen. Es sollten hier nicht immer nur die Herausforderungen hervorgehoben, sondern viel mehr die Chancen diskutiert werden. Eine Angst vor dem Scheitern lähmt nun schon zu lang den ganzen Prozess.

Selbst wenn der Versuch misslingt, bietet der Vertrag von Lissabon Möglichkeiten, auch ohne Revision Reformen anzustoßen. Die Anzahl der Kommissare könnte reduziert, die qualifizierte Mehrheit ausgeweitet werden, und auch für die EU-Erweiterung gibt es genug unterschiedliche Konzepte – nur leider nicht in Wahlprogrammen. Gerade deshalb sollten anstelle von europäischen Spitzenkandidaten EU-weite Spitzenprogramme treten, um den Fokus auf das hoffentlich Verbindende zwischen den unterschiedlichen nationalen Parteien innerhalb der Fraktionen des EP zu legen: Inhalte und konkrete Ziele für die Zukunft der EU.

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Die Autoren:

Mag. Sebastian Schäffer, MA ist Politikwissenschaftler und Direktor des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien sowie Generalsekretär der Danube Rectors‘ Conference (DRC).

Sophia Beiter, MA BA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien und hat Slawistik und Germanistik an der Universität Wien studiert.

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