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Salzburger Festspiele

„Man muss die Geschichte, die man erzählen möchte, erst erfinden“

Teamwork. Regisseurin Mariame Clément (links) mit Julia Hansen, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüm. 
Teamwork. Regisseurin Mariame Clément (links) mit Julia Hansen, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüm. SF/Neumayr/Leo
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Mariame Clément debütiert mit „Les Contes d’Hoffmann“ bei den Salzburger Festspielen. Die Regisseurin im Gespräch.

Die Opéra fantastique von Jacques Offenbach macht es Regisseurinnen und Regisseuren nicht leicht: Davon ist Mariame Clément überzeugt. Mit umso größerer Intensität hat sich die französische Regisseurin, wie sie im Interview erzählt, in die Arbeit an diesem Werk gestürzt, das mehrere Erzählungen von E. T. A. Hoffmann verbindet. Marc Minkowski übernimmt die musikalische Leitung am Pult der Wiener Philharmoniker, Julia Hansen hat Bühnenbild und Kostüm geschaffen. Als Hoffmann ist Benjamin Bernheim zu sehen. Stella, Olympia, Antonia und Giulietta werden von Kathryn Lewek interpretiert. Kate Lindsey gibt Muse und Nicklausse. Im Interview erzählt Mariame Clément, die auch schon an der Opéra national de Paris, am Teatro Real in Madrid, am Grand Théâtre de Genève, in Glyndebourne und an vielen weiteren wichtigen Opernhäusern gearbeitet hat, über die Herausforderungen des Werks.

„Les Contes d’Hoffmann“ bringt gleich mehrere Handlungen anstatt eine. Wie gehen Sie damit um?

Ich finde diese Oper strukturell sehr schwierig, aber gerade dadurch natürlich auch spannend zu inszenieren. Die Herausforderung ist, dass das Libretto ein Patchwork aus verschiedensten Quellen ist. Ich verstehe, wenn eine Oper eine Geschichte bringt, aber vier? Außerdem haben die Librettisten nicht nur verschiedene Erzählungen von E. T. A. Hoffmann in einem Libretto kombiniert, sondern sogar E. T. A.  Hoffmann selbst auf die Bühne gestellt: Wir begegnen ihm in der Rahmenhandlung als Erzähler, dann aber auch als handelnde Figur in seinen eigenen Werken! Es ist ein wenig, als ob jemand sagen würde: Machen wir eine Oper, in der im ersten Akt der Prinz von Dänemark vorkommt, im zweiten der König von Schottland, im dritten ein Lord, der zu viel trinkt ­– und den Protagonisten nennen wir dann William Shakespeare. Das macht das Stück dramaturgisch he­rausfordernd und die Hauptfigur zu einer merkwürdigen, die nicht so einfach zu begreifen ist. Auch wenn ich diese Oper als Zuschauerin genossen habe, hatte ich immer ein wenig Schwierigkeiten, an diese Person zu glauben.

Wie lösen Sie das?

Indem ich versuche, diese Metaebene in die Geschichte einzuweben. Ich zeige nicht einfach eine Figur, die Hoffmann heißt und Dichter ist. Sondern ich möchte auch mitpräsentieren, welche Art von Mensch er ist. Ich möchte erforschen, ob er im Verlauf des Stücks eine Entwicklung durchmacht. Es soll nicht nur um das Œuvre Hoffmanns gehen, sondern vor allem auch darum, dass der Künstler und seine Schöpfungen nie separat gedacht werden können. Ich habe versucht, so heranzugehen, dass Teile der Handlung seinem Leben zuzuordnen sind, während andere Teile sich eben auf das „Werk“ beziehen. Diese unterschiedlichen Ebenen möchte ich klar erkennbar machen.

Wie genau wird das Publikum diese Unterscheidung wahr­nehmen können? Und wie gehen Sie mit Graubereichen zwischen Leben und Werk Hoffmanns um?

Indem ich mich in jeder Szene entscheide, was echt ist und was fiktiv. In feiner, detaillierter, pingeliger Arbeit schaue ich mir an, was direkt mit Hoffmanns Leben zusammenhängt und was Teil seines „Werks“ sein soll. Ich meine damit nicht, dass ich das für einen Akt so und für den anderen so entscheide – sondern innerhalb jeder Szene Satz für Satz. Und wenn man das auf diese Art angeht, wird es spannend: Dann machen plötzlich die Entsprechungen zwischen den Akten viel Sinn. Beispielsweise kommt der Schlüssel, der schon am Anfang in der „realen“ Rahmenhandlung da ist, im Giulietta-Akt zurück. Und auch die Puppe Olympia wird mit einem solchen aufgezogen. Leben und Werk mischen sich immer wieder – wie im echten Leben auch. Aber ich versuche, alles lesbar zu machen, was ich für wichtig halte.

Wie hängen die einzelnen Akte für Sie zusammen?

Ich möchte, dass in meiner Inszenierung eine Entwicklung der Figur Hoffmanns spürbar ist. Dass es klar erkennbar die Jugend gibt, eine reifere Zeit, eine Vergangenheit – und dass man wirklich sieht, wie Hoffmanns Leben voranschreitet. Also: Die Rahmenerzählung ist die Gegenwart, Olympia die Jugend, der Antonia-Akt spielt später. Nur Giulietta ist eben spezieller.

Der Giulietta-Akt wird also nicht in die Figurenentwicklung von Hoffmann einbezogen?

Ich finde diesen Akt von der Erzählung her problematisch. Als Zuschauerin habe ich ihn oft konfus empfunden. Zugegebenermaßen sind schon die beiden vorangehenden Akte merkwürdig und surreal, aber im Giulietta-Akt ist die Atmosphäre nochmals ganz anders und die Handlung deutlich komplizierter. Man kann nicht so tun, als wäre es ein Abschnitt wie die anderen. Ich sehe diesen Akt vielmehr wie einen Albtraum. Bei Venedig denkt man sofort an dunkle Kanäle und ein Labyrinth. Das ist für mich fast wie eine paranoide Interpretation der vorigen Episoden.

Giulietta wird also nicht mit der Biografie Hoffmanns ver­bunden . . . 

Hier wirkt vieles wie ein Traum, der die Psychologie Hoffmanns widerspiegelt. Die Schwierigkeit liegt natürlich auch in der Entstehungsgeschichte, denn dieser Akt blieb unvollendet. Daher ist es jener, an dem am meisten herumgebastelt wird, weil man sich zwischen verschiedenen Fassungen entscheiden muss. Ein weiterer struktureller Unterschied, der oft unterschätzt wird, ist die Frage nach der Funktion der Bösewichte. Die Bösewichte der Olympia- und Antonia-Akte haben eigentlich gar nichts gegen Hoffmann, er fällt unter „Kollateralschaden“. Im Giulietta-Akt jedoch wird der Bösewicht, indem er mit Giulietta einen Pakt um Hoffmanns Spiegelbild eingeht, plötzlich zu einem seelenraubenden Mephisto. Diese paranoide Vision ist radikal anders und gibt der Geschichte eine ganz andere Farbe. Sie ist von daher unterschiedlich zu behandeln.

In Salzburg verkörpert eine einzige Sängerin, Kathryn Lewek, die Rollen von Stella, Olympia, Antonia und Giulietta. Nutzen Sie das auch für die Inszenierung?

Ja, ich werde das auch in die Regie einfließen lassen. Die Frauenfiguren bilden natürlich eine weitere Herausforderung des Stücks: Eine ist stumm, eine andere eine Puppe, wieder eine andere stirbt, wenn sie singt, eine weitere ist eine Prostituierte. Das Frauenbild ist kein sehr positives. In dieser Hinsicht bekommt die Szene, in der Dr. Miracle Antonia fragt, ob sie wirklich für Hoffmann ihre Karriere aufgeben möchte, für unsere heutigen Ohren eine ganz besondere Resonanz. Zur Entstehungszeit klang das wohl eher wie eine gefährliche Teufelsstimme, aber ein heutiger Zuschauer hört darin eine berechtigte Frage. Das hat mich dazu bewegt, die Antonia-Figur aufzuwerten und sie mit zwei der anderen Frauenfiguren zu verknüpfen.

Inwiefern?

Stella und Antonia sind dieselbe Person. Giulietta ist die paranoide Fantasieversion dieser Frau. Olympia hingegen sehe ich als eine andere Person, als eine Bekanntschaft aus der Jugend. Kathryn Lewek freut sich sehr darauf, dass die Frauen der „Erzählungen“ diesmal echte Figuren sein sollen, die eine Entwicklung durchmachen, und keine reine Projektion oder Fantasie Hoffmanns.

Sie haben so viele Herausforderungen beschrieben. Da drängt sich die Frage auf, warum Sie sich dennoch auf diese Oper eingelassen haben . . .?

Schwierigkeiten sind dazu da, dass man über sie nachdenkt und sie überwindet. Sie machen auch den Reiz aus. Die Stücke, die mir im Laufe meiner Karriere am meisten Spaß gemacht haben, sind jene, mit denen ich mich am intensivsten auseinandersetzen musste. Bei den meisten Opern ist klar, welche Grundhandlung man zu erzählen hat. Hier muss man sich erst mal fragen, was man eigentlich vermitteln möchte und was man aus der Handlung machen will. Man muss die Geschichte, die man erzählen möchte, erst erfinden.

Und wie würden Sie formulieren, wofür Sie sich entschieden haben?

Ich erzähle die Geschichte eines Künstlers, der an einem Wendepunkt seiner Karriere ist und vielleicht noch nicht alles erreicht hat, was er schaffen wollte. Er überlegt, ob er weitermacht. Jeder Künstler hat schon solche „Hoffmann-Krisen“ erlebt. Und viele machen glücklicherweise weiter. Offenbach war es leider nicht vergönnt, weiterzumachen, da er vor der Uraufführung seines Meisterwerks an der Opéra Comique verstarb. Seine Musik macht heute den großen Reiz dieser Oper aus. Und wenn ich den Künstler im Wandel der Zeit mit den Höhen und Tiefen seiner Karriere zum Zentrum meiner Interpretation mache, dann ist das eine Hommage an Offenbach, der mir als Mensch sehr am Herzen liegt.

 

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