Zeitreise

Heute vor 90 Jahren: Platzmangel in Wiener Spitälern wegen Putzarbeiten

Elf Personen mit Vergiftungserscheinungen begegneten Schwierigkeiten, da in einigen Spitälern kein Bett frei war.

Neue Freie Presse am 17. Juli 1934

Im Laufe des gestrigen Tages sind in Wien elf Personen an Vergiftungserscheinungen nach dem Genuß von Schwämmen erkrankt, die sie selbst oder Bekannte von ihnen in der Umgebung von Wien gepflückt hatten. Ihre Unterbringung in den Spitälern begegnete gewissen Schwierigkeiten, da in einigen Spitälern kein Bett frei war.

Die auffallende Erscheinung, daß die Rettungsgesellschaft mit erkrankten Personen in mehrere Spitäler fahren muß, bis der Patient Aufnahme findet, wird uns von der Leitung eines Wiener Spitals wie folgt erklärt. Alljährlich im Juli oder August wird in allen Wiener Krankenanstalten eine Generalreinigung durchgeführt, in deren Verlauf Zimmer, die eben gründlich gemacht werden, gesperrt werden müssen. Man wählt hierfür erfahrungsgemäß die Sommermonate, weil die Krankheitskurve zu dieser Zeit am tiefsten liegt.

Selbstverständlich finden ernste Fälle, vor allem Fälle, bei denen das Leben des Patienten auf dem Spiel steht, immer und unter allen Umständen Berücksichtigung.

Männer in Hitler-Uniform überfallen Frauen

Drei Teilnehmerinnen am demokratischen Frauentag in Würzburg wurden angegriffen.

Neue Freie Presse am 16. Juli 1924

In Würzburg sind, wie berichtet, drei Teilnehmerinnen am demokratischen Frauentag, der dort abgehalten wurde, von deutschvölkischen Burschen überfallen und mißhandelt worden. Über diesen Überfall werden jetzt folgende Einzelheiten bekannt: Die drei Frauen gingen, mit den schwarz-rot-goldenen Tagungsabzeichen geschmückt, in den Abendstunden auf den Weinbergen in der Nähe der Stadt spazieren, als sie von mehreren jungen Leuten in Hitler-Uniform angerempelt wurden.

Die Burschen ergriffen einen der zur Bekämpfung der Reblaus aufgestellten Bottiche, der Kalkwasser mit Vitriolzutat enthielt, und gossen den Inhalt über die Damen aus. Zwei von diesen, Frau Ries aus Berlin und Frau Trutlo aus Breslau, wurden vollständig durchnässt. Erst als Frau Trutlo in ihrem Quartier anlangte, bemerkte sie, daß Strümpfe und Schuhe ganz zerfressen waren. Bald darauf schwoll auch der Fuß an, so daß Frau Trutlo die Klinik aufsuchen mußte.

Die völlige Heilung des verbrannten Fußes ist noch nicht erfolgt. Die völkischen Helden zogen, das Ehrhardt-Lied singend, davon.

Dienstmänner beschweren sich beim Wiener Bürgermeister

Bürgermeister Seitz will die vorgebrachten Wünsche und Beschwerden prüfen.

Neue Freie Presse am 15. Juli 1924

Gestern vormittag sprach eine Abordnung der Genossenschaft der Wiener Dienstmänner unter Führung des Vorstehers Schweinburg bei Bürgermeister Seitz vor. Es wurde darüber geklagt, daß durch die Erlaubnisscheine, welche die Inhaber berechtigen, Gepäckstücke zu transportieren, die Dienstmänner schwer geschädigt werden.

Die Abordnung wünschte ferner, daß der Magistrat bei der Zuweisung neuer Standplätze für Dienstmänner und bei einem Wechsel des Standplatzes einvernehmlich mit der Genossenschaft vorgehe. Die Abordnung teilte dem Bürgermeister auch mit, daß die polizeiliche Verordnung über das Höchstgewicht des Gepäcks, das von Personenautomobilen befördert werden darf, oft betreten wird, was eine schwere Schädigung der Dienstmänner bedeutet. Bürgermeister Seitz antwortete, daß er die vorgebrachten Wünsche und Beschwerden prüfen und dem Magistrat und der Polizei die erforderlichen Aufträge erteilen werde.

Badekleidung als Scheidungsgrund

Ein interessantes Urteil fiel in Ungarn.

Neue Freie Presse am 14. Juli 1934

Aus Budapest wird uns geschrieben: Die Königliche Kurie als oberste Gerichtsinstanz hat dieser Tage in einem Scheidungsprozeß ein interessantes Urteil erbracht. In einer angesehenen Familie in Großkanizsa war ein Ehekrieg ausgebrochen, der den Gatten veranlaßte, gegen die Frau den Scheidungsprozeß anzustrengen. Als Hauptargument führte der Gatte ins Treffen, daß seine Frau gelegentlich einen männlichen Bekannten im Badekostüm empfangen habe.

Die Kurie, welcher die letzte Entscheidung über den Prozeß vorlag, stellte in ihrem Urteil fest, daß das Tragen eines jeden Kleidungsstückes seine Zeit und seinen Ort habe. Die übliche Bekleidung an einem Strande sei das Badekostüm, dagegen müsse es den guten Geschmack des wohlerzogenen Menschen verletzen und das Anständidkeitsgefühl der Frau in zweifelhaftes Licht stellen, wenn sie in ihrer Wohnung einen männlichen Bekannten im Badekostüm empfange. Es zeuge von einem mangelhaften moralischen Gefühl der Frau, wenn sie sich auf die Ausrede des Mannes berufe, daß dieser sie auch auf dem Strande im Badekostüm gesehen habe.

Greta Garbo wehrt sich gegen Film über Greta Garbo

Ein schwedischer Kameramann besuchte “Erinnerungsstätten” und fotografierte den Weltstar.

Neue Freie Presse am 13. Juli 1934

Der schwedische Kameramann Leonard Clairmont hatte die gute Idee, die “Erinnerungsstätten” an seine große Landsmännin Greta Garbo aufzunehmen und zu einem Film zu vereinigen. Man sieht also das Geburtshaus, die Schule, das Friseurgeschäft und die Modefirma, in denen die göttliche Greta ein unbekanntes schwedisches Durchschnittsmädchen war, aber Clairmont montierte auch noch Beispiele aus Gretas ersten Filmen ein, fuhr nach Amerika und photographierte den Weltstar in seinem Heim, mit der grünen Uhubrille auf der Nase und den sagenhaften riesigen Schuhen an den Füßen.

Er kündigte nun den fertiggestellten Film in großer Aufmachung an und der erste Interessent, der sich meldete, war Greta Garbo selbst. Durch ihren Rechtsanwalt verlangte sie die Entfernung bestimmter Passagen. Das Opfer schien Clairmont nicht groß und er willigte deshalb in ihre Forderung ein. Kaum hatte er die ominösen Stellen beseitigt, als die Firma auf den Plan trat, bei der die Garbo engagiert ist, und im Namen ihres Stars die völlige Vernichtung des Films verlangte.

Das war aber dem fleißigen Kameramann zu viel. Daraufhin lenkte die Firma ein und bot ihm 50.000 schwedische Kronen, wenn er ihr den Film zur Vernichtung überlasse. Clairmont verspricht sich aber aus der Vorführung weitaus höhere Einnahmen und hat deshalb das Angebot abgelehnt. Der Film wird jetzt sogar mit den von Greta Garbo bemängelten Passagen zur Aufführung gelangen.

Invasion der Millionäre in London

Ein Schiff mit amerikanischen Multimillionären lief in Southampton ein. 

Neue Freie Presse am 12. Juli 1924

Als die “Majestic” der White Star Line kürzlich in Southampton einlief, füllten amerikanische Multimillionäre und ihre Familien das Deck des vornehmen Schiffes. Wie so die Prozession der Passagiere über den Landungssteg ging, nahm sie sich geradezu wie eine Modenschau aus. Mrs. Harry Payne Whitney und Miß Mabel Gerry waren die Anführerinnen der vornehmen und eleganten Welt.  Dabei konnte man bemerken, daß alle Damen, die auf Klasse hielten, Strohhüte trugen.

 Drei Extrazüge waren notwendig, um die Reisenden nach London zu bringen, wo sie sich sogleich in den Trubel der Ausstellung (British Empire Exhibition, Anm.) stürzten. Nicht die letzte und geringste ihrer zahlreichen Attraktionen ist es, daß man es mit großem Raffinement verstanden hat, der Internationalität der Besucher auch auf kulinarischem Gebiete gerecht zu werden und damit gute Stimmung zu erhalten

.Der Fremde wird nicht nur damit überrascht, daß er alle seltenen und vortreffliche Speisen der Welt in den internationalen Etablissements serviert bekommt, sondern seine gute Laune wird sich noch erhöhen, wenn er bemerkt, daß neben seinen Lieblingsspeisen auch seine Lieblingsgewürze und Saucen in der von ihm gewünschten Art und Zubereitung bereitstehen. 

Churchill „ähmt“ und stottert

Der bedeutende britische Politiker tut sich beim Redenhalten äußert schwer - wie schon sein Vater. 

Neue Freie Presse am 11. Juli 1924

Herrn Churchills aus Nervosität während seiner Reden gestottertes „ää“, das in ganz England bekannt ist, gab schon zu vielen Scherzen Anlaß. Dieser Mann, der sonst wahrhaftig nichts von Schüchternheit oder Verlegenheit an sich hat, verliert auf der Rednertribüne die innere Balance, gerät ins Stocken und klettert mit einem gestotterten „ää“ von Satz zu Satz.

Diese Schwäche, der sonst keineswegs schwachen Persönlichkeit, die sich sogar sehr oft als die eines energischen Draufgängers erweist, at, wie ein englisches Blatt feststellt, Churchill von seinem Vater, dem verstorbenen Lord Randolph Churchill, geerbt. Von diesem wird dabei ein hübsches Geschichtchen erzählt.

Es war Ende der siebziger Jahre. Lord Randolph Churchill sollte im Trinity College zu Dublin eine Rede halten. Ein sehr bekannter Dandy, hatte er es durchgesetzt, daß seine Eleganz in einem gewissen Sinne maßgebend war. Er trug damals – nach der letzten Mode – einen langen, weit ausgezogenen und gut gewichteten Schnurrbart, dessen Spitzen weit über die Wangen hinausreichten. Als er nun zu sprechen begann (es war eine seiner ersten Reden, und er hatte noch nicht die Kunst des Sprechens erlernt), unterbrach er jeden Satz mit einer langen Serie von „ää“, zupfte nervös an seinem Bart oder wischte den Mund mit seinem Taschentuch ab. Eine Zeitlang hörte ihn das neugierige Auditorium schweigend an. Als er aber gleich wieder mit seinem nervösen „ää“ begann, ermutigte ihn eine fröhliche Studentenstimme mit den Worten: „Versuchs doch mit dem Schnurrbart, old chap!“ – Und als der Lord wieder ein bißchen zögerte und nervös den Schnurrbart strich, rief die Stimme: „Nimm doch dein Taschentuch, old chap!“

Als er aber in der nächsten Verlegenheitspause automatisch nach dem Tüchlein griff, gröhlte ein Lachen: „ää – old chap!“ Es ist unnötig, zu sagen, daß von all diesen hübschen Dingen leider nichts in Mr. Churchills Biographie seines Vaters erscheint.

Anmerkung: Sir Winston Leonard Spencer-Churchill gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Er war zweimal Premierminister und führte Großbritannien durch den Zweiten Weltkrieg.

Fälle von “Hitzewahnsinn” in Italien

Frauen erschienen unbekleidet auf der Straße.

Neue Freie Presse am 10. Juli 1924

Die Hitze in Italien hat heute etwas nachgelassen. Heute mittag betrug das Maximum im Schatten 32,5 Grad. Gestern abend aber wurden in Meran und in Bozen Frauen, die auf der Straße völlig unbekleidet erschienen, in die Irrenanstalt eingeliefert. Eben dorthin wurde auch ein Mann, der irrsinnig geworden war, eingeliefert. Er hatte im Hitzewahnsinn das gesamte Mobiliar zertrümmert.

Können sich die Parlamentarier nicht benehmen?

Der Nationalrat wurde zum Ort hässlicher Auseinandersetzungen.

Neue Freie Presse am 9. Juli 1924

Der Nationalrat war gestern wieder einmal der Schauplatz unerfreulicher Szenen, die wenig geeignet sind, die in der Oeffentlichkeit ohnehin stark bestrittene Stellung unserer parlamentarischen Vertretung zu festigen.

Es gab häßliche Beschimpfungen, die eher an den Ton von Wirtshausraufereien erinnerten als an den gesetzgebenden Körperschaften, und manchmal schien es fast, als sollte dieses Wortgefecht auch in Tätlichkeiten ausarten. Den Anlaß zu den Krawallen bot die Debatte über eine dringliche Anfrage der Sozialdemokraten, die sich mit den in den letzten Monaten vorgekommenen Soldatenselbstmorden beschäftigte.

Die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Deutsch und des Heeresministers Baugoin wurden, von vereinzelten Zwischenrufen abgesehen, noch ziemlich ruhig angehört. Als aber später Abgeordneter Kunschak in einer Polemik mit dem sozialdemokratischen Redner auch die Person des früheren Obersten Körner in die Debatte zog und die Haltung der Opposition angriff, wurde er mit einer Flut von Schimpfworten überschüttet, die sich schließlich zu Ausdrücken wie »Schuft«, »gemeiner Lügner« und »Lump« steigerte.

Minutenlang war der Lärm so groß, daß der Redner sich überhaupt nicht verständlich machen konnte, und erst als der Präsident gleichzeitig den lautesten Schreiern, den Abgeordneten Austerlitz und Zelenka und auch dem Redner Abgeordneten Kunschak den Ordnungsruf erteilte, trat wieder einigermaßen Ruhe ein. Als Abgeordneter Kunschak später zu einer tatsächlichen Berichtigung das Wort ergriff, verließen die Sozialdemokraten ostentativ den Saal, und die Christlichsozialen wieder revanchierten sich mit einem Exodus während einer Rede des Abgeordneten Austerlitz.

Hitler verkündet Rückzug aus der Politik

Dieser Schritt ist ein wichtiges Ereignis für die bayerische und darüber hinaus für die deutsche Politik.

Neue Freie Presse am 8. Juli 1924

Adolf Hitler zieht sich von der Politik zurück. Der Führer der Nationalsozialisten in Bayern hat heute seinen Anhängern diesen Entschluß mitgeteilt, und die Leitung der Partei, die er bisher auch von seiner Festungshaft in Landsberg aus innebehalten hatte, niedergelegt. Dieser Schritt ist ein wichtiges Ereignis für die bayerische und darüber hinaus für die deutsche Politik, denn tatsächlich bedeutet er die Kapitulation der Hitlerschen Richtung vor der Ludendorffschen, die Kapitulation der von links kommenden vom Sozialismus angeregten, an die Muse appellierenden Nationalsozialisten vor den Hakenkreuzlern der konservativen schwerindustriellen und nationalistischen Färbung.

Hitler war der Mann aus dem Volk, der Mann der demagogischen Reden, der starken Ausdrücke, aber auch der Mann, der die Fähigkeit hatte, auf die kleinen Leute zu wirken, und in dem trotz allem irgendwie eine lebendige, urwüchsige Kraft war. Wenn nun Ludendorff der Alleinherrscher unter den Völkischen wird, wenn er seine Kreaturen an alle leitenden Posten stellt, dann wird diese innere Wendung nicht spurlos am Nationalsozialismus vorübergehen konnten. Inzwischen hat in den letzten Wochen die Klärung innerhalb Bayerns immer größere Fortschritte gemacht. Freilich, die Regierungskrise, die sich im Rahmen der bisherigen Koalition vollzogen hat, ließ sich wochenlang nicht weniger schwierig an als die in Berlin und Paris.

Das Menetekel des Novemberputsches hat die bayerische Volkspartei von einem Kurs abgeschreckt, der das Staatsschiff in die Brandungsklippen der Gegenrevolution steuerte. Die nach wie vor stärkste Partei des Landes ist ihrem Wesen nach konservativ und reaktionär insofern, als sie die Rückkehr zum föderalistischen Bundesstaat mit eigener Finanz- und Verkehrshoheit, mit zweiter Kammer und eigenem Staatspräsidenten an Stelle des einstweilen nicht möglichen Monarchen anstrebt. Der erste praktische Versuch zu diesem Ziele war der Volksentscheid, den die Jägerschaft der Völkischen und Sozialdemokraten zu Fall brachte.

Anmerkung: Adolf Hitler wurde wegen des gescheiterten Putsches vom 8./9. November 1923 zur Verbüßung seiner Strafe in die Gefangenenanstalt Landsberg am Lech eingewiesen. Die Festungshaft gestaltete sich relativ moderat: Hitler konnte zahlreiche Besucher empfangen und den ersten Band von „Mein Kampf“ verfassen. Am 20. Dezember 1924 wurde Hitler auf Fürsprache des Leiters der Strafanstalt auf Bewährung entlassen.

Blutige Unruhen in Holland

Nun erreichen auch das europäische Musterland des Friedens brutale Kämpfe. Wohin soll das alles führen? 

Neue Freie Presse am 7. Juli 1934

An immer neuen Orten schießen die Stichflammen aus unserem armen Europa. Holland hat immer als eines der Musterländer des sozialen Friedens gegolten und noch vor kurzem konnte ein Führer der katholischen Regierungspartei auf einem Kongreß den Satz aufstellen, daß auf diesem Gebiet Holland beispielgebend sei. Die Führer der Liberalen im vorigen Jahrhundert haben im Zusammenwirken mit katholischen Arbeiterführern tatsächlich auf allen Gebieten der sozialen Gesetzgebung Vorbildliches geleistet. Es ist bezeichnend, daß die Niederlande der Staat sind, in denen die Zahl der grundbesitzenden Arbeiter am größten ist.

Bei den Siedlungsmaßnahmen vieler Länder für städtische Arbeiter ist das holländische Vorbild maßgebend gewesen. Auch heute noch ist die Arbeiterklasse Hollands trotz der Krise in besserer Lage als die mancher anderer Länder. Freilich, die Arbeitslosigkeit ist von der Höchstziffer von 300.000 noch immer nicht wesentlich gesunken und der Schrumpfung des Außenhandels konnte kein Einhalt geboten werden. Nach dem Höchststand des Volkseinkommens, das 1928/29 über vier Milliarden, in diesem Jahr allerdings wird ein leichtes Ansteigen bemerkbar. Die Steuerlast hat sich wegen der sozialen Aufgaben des Staates mehr als verdoppelt, der Abbau der Staatsbeamten und die Kürzung ihrer Gehalte, die Landflucht der Bauern, die infolge der Preis- und Absatzkrise am meisten leiden, all das vereinigt sich zu einer für dieses reiche Land sehr ungewohnten last. Die Krise hat in Holland später eingesetzt, sie klingt aber auch langsamer ab.

Die politischen Auswirkungen dieser Entwicklung werden in den letzten beiden Jahren mehr und mehr bemerkbar Die Straßenkämpfe in Amsterdam, in diesem Urbild der Patrizierstädte, in diesem Sammelbecken von Reichtum, von weltumspannender Pionierarbeit, von alter Bürgerkultur sind ein ernstes Zeichen der Zeit. Die Vorgänge in Holland müssen für das zerrissene Europa eine neue Mahnung sein, sich nicht noch mehr in tödlichem Kampf selbst zu zerfleischen.

Anmerkung: Die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre führte dazu, dass ein Drittel der niederländischen Bevölkerung am Rande des Existenzminimums lebte. Dies führte zu einer Radikalisierung, von links wie von rechts. 1931 gründete der Wasserbauingenieur Anton Mussert die nationalsozialistische Partei Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die antidemokratisch und antisozialistisch war. Nach der Machtergreifung des NS-Regimes 1933 sahen viele Niederländer den NS-Staat als Puffer gegen die „kommunistische Gefahr“. 

Ein Londoner Figaro und seine fünf Frauen

Ein Friseur wurde wegen Polygamie zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Neue Freie Presse am 6. Juli 1934

Ein hübscher Mensch, ein fescher lebenslustiger Mann, der Friseur Brian Travers, der sich dieser Tage wegen fünffacher Polygamie zur verantworten hatte. Hochgewachsen, blond, mit blauen Augen, die treu um sich blicken und einer einschmeichelnden Stimme, die Mädchenherzen zu betören vermag, ist dieser lustige Londoner Figaro für seine Lieblingsbeschäftigung des Heiratsschwindels wie geschaffen. Er verlor seine Haltung nicht einmal in dem tragischen Augenblick, indem er zu vierjähriger Freiheitsstrafe verurteilt wurde, sondern guckte vergnügt ins Publikum und hielt nach hübschen Mädchen Ausschau, mit denen er ungeniert kokettierte.

Doch hat er seine Heiratsschwindeleien nicht bloß aus chronischer Verliebtheit, sondern aus Gewinnsucht begangen. Wieder der “Daily Herald” berichtet, hat Brian Travis seine fünf Erwählten um 220 Pfund geprellt. Er suchte sich seine Frauen mit Vorliebe auf dem Lande. Sonntags unternahm er Motorradausflüge in die Umgebung Londons und knüpfte galante Bekanntschaften an. Er lud seine jeweilige Freundin zu einem Imbi? ein, führte sie zum Tanz, begnügte sich aber nicht damit, ihr die Ehe zu versprechen, sondern heiratete sie nach kurzer Verlobungszeit. So ganz nebenbei wusste er seinen Gattinnen - ihre Zahl vermehrte sich allmählich auf fünf - ihre Ersparnisse abzunehmen. 

Er verfügte über eine brillante Technik, seinen fünf jungen und hübschen Lebensgefährtinnen, je ein Fünftel seiner Zeit zu widmen, so dass keine zu kurz kam und alle ihn für einen aufmerksamen Gatten hielten. Äußerst geschickt verstand er es, jeder seiner Gattinnen die Existenz ihrer vier Rivalinnen sorgfältig zu verheimlichen, so daß es zu keinerlei Eifersuchtsszenen kam. Durch einen peinlichen Zufall flog schließlich dennoch die Affäre auf und der Pascha wird nun vier Jahre lang auf seinen Haaren verzichten müssen.

Hörer-Schwund an der Uni Wien

Etwas mehr als ein Viertel der Studierenden sind Frauen.

Neue Freie Presse am 5. Juli 1934

Im Sommersemester 1934 waren an der Wiener Universität 10.627 Hörer inskribiert. Da im Jahre 1932 die Hörerzahl 12.870 und im Jahre 1933 etwa 11.670 betrug, läßt sich seit zwei Jahren eine Abnahme der Zahl der Studierenden um mehr als 2000 feststellen.

Das Jahr 1932 hatte seit der Jahrhundertwende die höchste Frequenzziffer mit 12.870 Studenten auszuweisen. 1900 betrug die Anzahl der Hörer an der Universität nur 6700. Im nächsten Jahre war eine Zunahme auf 7100 und im Jahre 1904 auf 8300 festzustellen. Der Zudrang zu den akademischen Berufen verstärkt sich in der Folgezeit. 1909 weisen die Inskriptionslisten 9600, 1911 bereits 10.200 Hörer aus. Zu Beginn des Krieges findet man auf der Wiener Universität 10.450 Studenten.

In den nun folgenden Kriegsjahren geht die Zahl der Inskribierten ständig zurück und erreicht den Tiefstand in der ersten Hälfte des Jahres 1917 mit 3940 Inskriptionen. Nach dem Umsturz trat sofort wieder ein starkes Ansteigen der Zahl der Studierenden ein. Diese Steigerung erreichte, wie erwähnt, ihren Höhepunkt im Jahre 1932.

Von den im Jahre 1934 inskribierten 10.627 Hörern sind mehr als ein Viertel, nämlich 2724 Frauen. Auf die einzelnen Fakultäten waren die Inskribierten folgendermaßen verteilt: Theologen 452 (davon 16 Frauen), Juristen 2669 (263 Frauen), Mediziner 3585 (806 Frauen), Philosophen 3911 (1639 Frauen), Staatswissenschaftler 85 (24 Frauen) und Pharmazeuten 245 (134 Frauen). Die letzten zwei Zahlen sind in die Zahl der Juristen und Philosophen bereits eingerechnet. 

Der Blick in die Zukunft wird verboten

Ein Paragraph soll Wahrsagerinnen das Handwerk legen, wird aber wohl keinen Erfolg haben.

Neue Freie Presse am 4. Juli 1924

Der dichte Schleier, der die Zukunft verhüllt, den man aber bei prophetisch veranlagten, meist älteren Jahrgängen angehörenden Damen, gegen mäßiges Entgelt lüften kann , soll nun definitiv geschlossen bleiben. Die Polizei will es so. Sie findet, daß der Blick in die Zukunft ein Unfug ist, der nicht länger geduldet werden darf. Und sie hat gleich einen, ja sogar zwei Paragraphen zur Hand, mit denen sie den Unfug steuern will.

Zugegeben, es ist ein Unfug. Der gesunde Menschenverstand weiß, dass sich Schicksale nicht aus Spielkarten oder aus einer Schale mit Kaffeesatz prophezeien lassen, daß sie nicht in den Sternen geschrieben stehen, daß man sie nicht als Handlinien lesen kann und das auch die Handschrift kaum verrät, was im nächsten Jahr sein wird. Der gesunde Menschenverstand fragt in der Regel auch nicht danach, was ihm die Zukunft bringt, sondern beschränkt sich darauf, an dieser Zukunft werktätig mitzubauen, indem er einfach und schlicht die Pflicht des Tages erfüllt. 

Aber die vom gesunden Menschenverstand verschont gebliebenen Gehirne, die sich im Tag und seinen Forderungen nicht zurechtfinden und sich an vagen Zukunftsfantasien schadlos halten, brennen danach, jene Dinge zwischen Himmel und Erde zu erfahren, von denen sich die simple, aber lebenstüchtige Schulweisheit nichts träumen lässt. Sie lieben es zu hören, daß ihnen ein großes Glück ins Haus steht, sie aber zuvor eine weite Reise über Wasser machen werden und daß sie sich vor einer schwarzen Frauen abzunehmen haben, sie hören es gern, was ihnen eine Braut bzw ein Bräutigam winkt, mit allen Vorzügen des Körpers und des Geistes ausgestattet und selbstverständlich über erkleckliche Geldmittel verfügend.  Ist ihnen dieser Spruch zu teuer geworden, dann ist ihnen jede nützliche Arbeit gleichgültig geworden. 

Nun soll der Paragraph einer kaiserlichen Verordnung aus den 60er Jahren, vom ehrwürdigem Aktenstaub befreit, in die dumpfen Altweiberstuben der Wahrsagerinnen und Kartenaufschlägerinnen hineinwettern und den Nutznießerinnen menschlicher Beschränktheit das Handwerk legen. Es ist kaum anzunehmen, daß der wackere Paragraph viel Glück haben wird. Wenn selbst die Götter vergebens kämpfen, was soll dann ein Paragraph ausrichten? Neben dem Witz geht stets der Aberwitz einher, neben dem Glauben der Aberglauben. Gegen den Aberglauben ist kein Paragraph gewachsen.

Die Pfändung der Volksoper

Es ist eine fiskalische Brutalität, die sich in Wien ankündigt.

Neue Freie Presse am 3. Juli 1924

Das Theater in Währing ist jenes des kleinen Mannes. Wem die Plätze des Hauses auf der Ringstraße zu teuer sind, wer musikalischen Genuß zu haben wünscht, ohne zu tief in den Beutel zu greifen und das Budget des Alltags empfindlicher zu belasten, der findet in der Volksoper sein Auslangen, wo ebenfalls bedeutende Kräfte künstlerische Wirkung ausstrahlen und wo die Erinnerungen an das große Talent Felix Weingartners und die Frische und der Schwung eines neuen Leiters die Atmosphäre des Fortschrittes und der Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verbreiten.
Selbstverständlich hat auch die Volksoper wie sehr viele öffentliche Institute einen bösen Engpaß zu durchmessen und gerade der jetzige Augenblick ist ernst, da das System der Reformen am Beginn ist und sowohl die wirtschaftliche Lage wie auch die Ruhe und die Erschaffung des Sommers den Theaterbesuch verringern.

Da können wohl auch dem Stärksten die Grausbirnen aufsteigen, da kann wohl auch der Kühnste und Besonnenste einen roten Kopf bekommen in dem Gedanken an all die Sorgen, die auf ihn einstürmen, an all die glühenden Pfeile, die ihn umschwirren: Wird die Sanierung gelingen, wird der Herbst die erwartete Erhöhung der Einnahmen verschaffen, wird das Publikum Folge leisten, das leider si vielfach an Oberflächlichem sich zu ergötzen liebt und immer tiefer in das Lotterbett der geistigen Trägheit herabsinkt?

Und da meldet sich ein Feind, an den der Direktor offenbar vergessen hat: Der Gerichtsvollzieher des Stadtrates Breitner. Ohne viel Federlesens sans dire gare hat der Gemeindereferent den Büttel geschickt und ganz nach der alten Methode, die so oft in ihrer Grausamkeit geschildert und verurteilt wurde, hat er den Schnitt ins zuckende Leben erbarmungslos und bedenkenlos für notwendig gehalten. Statt mit dem Direktor zu verhandeln, statt auf die Rechtsfolgen weiteren Zögerns bei der Zahlung der Lustbarkeitsabgabe aufmerksam zu machen, statt das Institut zu schonen, hat er wiederum einen Beweis seiner Machtvollkommenheit zu liefern gesucht und damit vor dem ganzen Publikum und in allen wirtschaftlichen kreisen die Volksoper aufs schwerste geschädigt.

Wir hoffen, daß der Vorstoß gegen die Volksoper vereinzelt bleiben und daß nicht etwa aus diesem Wahnsinn Methode werde. Aber diese Episode kennzeichnet doch auch die tiefere Ungerechtigkeit in der Anwendung der sogenannten Lustbarkeitssteuer. Gedacht war, die Champagnerlokale, die Kabaretts und ähnliche Stätten des Luxus und der flachen Zerstreuung zu treffen, jene Gastwirtschaften, wo unsere reichen Mitbürger die unbedingte Notwendigkeit empfinden, Champagner oder Kaviar mit möglichst gewürzten geistigen Zutaten zu genießen. Gedacht war eine Bestrafung des großstädtischen Lasters. Tatsächlich ist jedoch eine Bestrafung des Kunstgenusses daraus geworden, eine Steuer auf Kultur, eine Steuer auf Bildung, eine Steuer auf das bißchen seelischen Aufschwung, das uns die Inflationsperiode und die schauerliche Materialisierung des Daseins noch gelassen haben.

Heute vor 100 Jahren: Tödliches Attentat auf einen Zeitungskorrespondenten

Professor de Haan wurde in Jerusalem erschossen.

Neue Freie Presse am 2. Juli 1924

Montag wurde im jüdischen Viertel von Jerusalem auf den Korrespondenten der Londoner “Daily Expreß” sowie holländischer Zeitungen, Professor Dr. J. de Haan, ein Revolverattentat verübt. Er wurde in ein Spital gebracht, wo er bald darauf seinen Verletzungen erlag. Der Täter konnte entfliehen. Unter den Juden Palästinas herrscht große Erregung. Das Begräbnis des Ermordeten fand unter riesiger Beteiligung der Bevölkerung statt. Es kam zu Kundgebungen gegen die Zionisten.

Dr. de Haan, ein gebürtiger Holländer, war ein Vierziger und verheiratet. Er fungierte als Professor an den staatswissenschaftlichen Kursen, die von der englischen Regierung in Jerusalem eingerichtet worden sind. Er war ein eifriger Anhänger der Partei Agudas Isroel, der Vertreterin der unabhängigen jüdischen Orthodoxie, die bekanntlich im vorigen Jahre in Wien ihren ersten Weltkongreß abgehalten hat, und bekämpfte in heftiger Weise die Zionisten, da er die von diesen angestrebte nationale Lösung der Judenfrage als große Gefahr für das Judentum betrachtete. Er trat auch für die Verständigung mit den Arabern in Palästina ein.

In zionistischen Kreisen rief die Meldung von dem Verbrechen größte Bestürzung hervor. Man verurteilt dieses Attentat in der schärfsten Weise, und meint, daß es von einem Wirrkopf ausgeführt worden ist. 

Heute vor 100 Jahren: Mario und die Muschelfischer 

Über einen amüsanten Typen in der Lagunenstadt Venedig.

Neue Freie Presse am 1. Juli 1924

Aus Venedig wird uns geschrieben: Es gibt in Venedig einen Gondolier mit einem grünen Apachentüchel um den Hals und mit Namen Mario, der zu den amüsantesten Volkstypen der Lagunenstadt gehört. Er war früher bei der Marine, hat die ganze Welt gereist, nun steht er in Diensten eines reichen Venezianers und widmet seine freie Zeit, wenn sein Herr auf Reisen ist, wißbegierigen Fremden.

Keiner kennt die Geschichte seiner Stadt so wie er, wenn er aber bemerkt, da ein Fremder die landläufigen Sehenswürdigkeiten schon genossen hat, so weiß er versteckte Kirchlein und einsame Gärten, wo niemand hinkommt, der mit dem Bädeker reist, und auch in das Leben des Volkes läßt er seinen Passagier hie und da einen Einblick tun.

Als wir an einem Feiertagnachmittag nach Murano fuhren, fanden wir auf dem Friedhof ein gestrandetes großes Motorboot mit Arbeitern, die von der Glasfabrik nach Hause wollten und nicht weiter konnten. Keine handbreit Boden war frei auf diesem überfüllten Fahrzeug, es schrie durcheinander und die Verzweiflung war groß. Ich machte Mario den Vorschlag, wenigstens einige der Schiffbrüchigen in unsere Gondel zu nehmen, und die Bestangezogenen sprangen höflich grüßend zu uns herüber.

Da sie aber in diesem Auenblick ein staatliches Motorboot anriefen, das alle mitnahm, verabschiedeten sie si nach einigen Minuten. Das Boot überließen sie seinem Schicksal. Von Murano glitten wir in den stillen Kanal, der ebensogut in China sein könnte. Hier werden nämlich in großen schimmernden Körben, die chinesischen Booten sehr ähnlich sind, die Krabben gezogen. Kein Schiff darf diesen schwimmenden Brutanstalten zu nahe kommen und die Ruhe der Tiere stören. Am Ende des Kanals liegen die Hausboote der Fischer. Sie sind untertags wie ausgestorben, nur ein dünner blauer Rauch kräuselt zuweilen auf, wenn die Mittags- oder Abendmahlzeit gekocht wird. Sonst schlafen die Bewohner, da sie in der Nacht arbeiten müssen.

Ein Muschelfischer sprach und dennoch an. Er brachte uns eine ganze Ladung an die Gondel, die ich ihm abkaufte und Mario schenkte, so eifrig er mich auch einlud, die bunten Schaltiere zu kosten. Ich sagte ihm, daß ich rohe Muscheln im Sommer für gefährlich halte, er aber lachte nur: „Ich esse sie schon 20 Jahre, und der liebe Gott hat mich immer noch nicht gewollt.“ Es war ein grau verhangener Junitag und die Fahrt nach dem Lido war weit, Mario mußte sich gewaltig anstrengen, um den vielen seichten Stellen auszuweichen, aber er blieb immer freundlich. Und schließlich sitzt man beidem Diner dansant im Excelsior unter roten Glühlampe vor einem mit Nelken geschmückten Tisch und die Klänge der Jazzband wirbeln durch den Raum.

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