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Pfingstdialog 2024

„Europa darf nicht zum geopolitischen Hinterhof der Weltordnung werden“

Christian Ultsch diskutierte mit Benita Ferrero-Waldner, Christopher Drexler, Velina Tchakarova und Herfried Münkler.
Christian Ultsch diskutierte mit Benita Ferrero-Waldner, Christopher Drexler, Velina Tchakarova und Herfried Münkler.Fischer (2)
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Eine neue, multipolare Weltordnung dämmert herauf. Wie soll die Rolle Europas in Zukunft aussehen? Der Tenor: Europa muss sich endlich wieder seiner Stärken besinnen.

Die alte Weltordnung ist im Umbruch und es steht noch lang nicht fest, wie eine neue aussehen wird – das ist eine der Grundthesen von Herfried Münkler, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Über mögliche Szenarien diskutierten EU-Kommissarin a. D. Benita Ferrero-Waldner, Velina Tchakarova, Expertin für Geopolitik, der steirische Landeshauptmann, Christopher Drexler, und Herfried Münkler unter der Leitung von Christian Ultsch, dem stellvertretenden Chefredakteur der „Presse“, beim Pfingstdialog auf Schloss Seggau.

Auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung haben sich nun drei große Player herauskristallisiert, die USA, China und – durch den Angriffskrieg auf die Ukraine – auch wieder Russland, stellte Benita Ferrero-Waldner fest. Wobei Europa nur am Rande Erwähnung finde, und Indien auf dem Weg zur Großmacht sei. „Daneben gibt es aber auch eine Menge an Mittelmächten wie Japan, Brasilien, die Türkei, Südafrika, Iran, Indonesien und der globale Süden, die eine immer stärkere Rolle in der globalen Politik spielen wollen“, so Ferrero-Waldner weiter. „Die Soft-Power der Europäischen Union ist nicht mehr ausreichend.“

Die unterschiedlichen Meinungen der 27 EU-Mitgliedstaaten seien eine Schwäche und zusätzlich registriere sie ein strukturelles Führungsproblem. Außerdem sei man in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik schwach aufgestellt: „Wir müssen uns auch zu einer viel stärkeren Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchringen“, ist Ferrero-Waldner überzeugt.

„Es ist naiv und illusorisch zu glauben, dass der globale Süden und die asiatisch-pazifische Region durch die enge wirtschaftliche Verflechtung mit den Industriestaaten Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und unser marktwirtschaftliches System einführen.“

Um Europa stärker zu machen, brauche es hingegen verbesserte, einheitliche Wettbewerbsbedingungen im Handel und bei Subventionen, und weniger Bürokratie, sie führt als Beispiel das kürzlich beschlossene Lieferkettengesetz ins Treffen.

Starkes Europa als Antwort

„Die Botschaft in Zeiten des Umbruchs kann nur ein starkes Europa sein“, bekräftigt Christopher Drexler. Es gelte, Ketten zu sprengen, denn die Europäische Union sei bisher institutionell nicht darauf ausgelegt, ein Feuerwerk an geopolitischer Dynamik zu zünden. „Dazu gehört zuallererst ein europäisches Selbstbewusstsein“, sagt Drexler, der ebenfalls verortet, dass Europa derzeit damit beschäftigt sei, seine Schwächen zu dokumentieren. „Europa muss sich auf seine Stärken besinnen, denn Aufklärung, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die Marktwirtschaft sind europäische Ideen“, unterstreicht Drexler. „Diese Prinzipien sollten die Welt durchfluten. Deshalb bedarf es weniger an Kleinklein und Cancel-Culture, sondern eines kraftvollen europäischen Entwurfs.“

Herfried Münkler (Humboldt-Universität) bei der Eröffnungs-Keynote.
Herfried Münkler (Humboldt-Universität) bei der Eröffnungs-Keynote.

»Europa muss sich auf seine Stärken besinnen, denn Aufklärung, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die Marktwirtschaft sind europäische Ideen. «

Christopher Drexler

Landeshauptmann der Steiermark

Aggression nicht zulassen

„Europa darf nicht zum geopolitischen Hinterhof der Weltordnung werden“, ist Velina Tchakarova überzeugt, „dafür braucht es mittel- und langfristige andere Zielsetzungen.“

Kurzfristig muss aber erkannt werden, dass Russland einen nicht kinetischen Krieg, einen Krieg mit nicht militärischen Mitteln, gegen das gesamte Gefüge in Europa, gegen die Sicherheitsarchitektur und das liberale Wirtschaftsmodell führt: „Diese Aggression sollten wir nicht zulassen“, stellt die frühere Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik ­(AIES) klar.

„Geopolitisch treibt sich China in Räumen herum, die das zaristische Russland und auch die Sowjetunion für sich reklamiert haben“, führt Herfried Münkler aus, „Das betrifft vor allem Zentralasien, den landgestützten Teil der Neuen Seidenstraße. Und die Sinisierung Ostsibiriens schreitet schnell voran. Putin sitzt aus Xis Schoß, der seine großen Arme um ihn gelegt hat.“ Es wäre strategisch für Putin geschickter gewesen, sich die Europäer als Partner zu halten, sagt Münkler.

Andererseits sind die USA, die bisher als Hüter des internationalen Regelwerks galten, ebenfalls zu Regelbrechern geworden, konstatiert Münkler und zitiert den französischen Präsidenten Emmanuel Macron der meinte, wenn alle die Regeln brechen, mache es keinen Sinn der letzte Regeltreue zu sein: „Das gesamte System löst sich auf und die Europäer müssen sich überlegen, ob sie die daraus resultierenden Nachteile in Kauf nehmen.“

Geist & Gegenwart

Die steirischen Pfingstdialoge „Geist & Gegenwart“ wurden 2005 auf Schloss Seggau in der Südsteiermark ins Leben gerufen und sind eine Veranstaltungsreihe des Club Alpbach Steiermark in Zusammenarbeit mit dem Land Steiermark und der Diözese Graz-Seckau.

Der diesjährige zwölfte Pfingstdialog am 15. und 16. Mai stand unter dem Motto „Europas Regionen. Zukunft gestalten.“

Weitere Informationen unter www.pfingstdialog-steiermark.at


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