Buch der Woche

Saša Stanišić: Wenn der Vater dauernd im Memory verliert

Saša Stanišić ist ein Künstler. Nur weil er eine Idee hat, muss er noch lange nicht daran festhalten, er jongliert mit ihr, lässt sie fallen, hebt sie wieder auf . . .
Saša Stanišić ist ein Künstler. Nur weil er eine Idee hat, muss er noch lange nicht daran festhalten, er jongliert mit ihr, lässt sie fallen, hebt sie wieder auf . . .Luchterhand
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Ein kleines Gedankenexperiment, ein großes Buch: Saša Stanišićs „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ über unsere Hoffnungen und unseren Ärger.

Was wäre, wenn? Was wäre, wenn wir einen kurzen Blick in die Zukunft werfen könnten? Zehn Minuten für, sagen wir, 130 Euro. Oder, wie in diesem Buch, 130 Mark. Es kann sein, dass diese Zukunft nicht ­gerade erstrebenswert erscheint. Dann kehrt man zurück in die Gegenwart und versucht zu verhindern, dass eintritt, was man gerade beobachtet hat. Aber es wäre auch möglich, dass man in dieser Zukunft reich ist und gesund und die Liebe fürs Leben gefunden hat. Dass man in diesen zehn Minuten seinem Sohn dabei zusieht, wie er sich in einem Match den Ball erkämpft, oder dass die Bundeskanzlerin von Deutschland dich um einen großen Gefallen bittet, wobei du dir noch überlegen kannst, ob du ihn ihr überhaupt erfüllst. Dann legst du noch einen ordentlichen Betrag drauf (130.000 Mark) und darfst dieses Leben leben.

Das ist das kleine Gedankenexperiment, das Saša Stanišić die 16-jährigen Burschen anstellen lässt, die sich am Anfang des Buches in den Weinbergen am Rande des Städtchens treffen. Wir schreiben das Jahr 1994, es ist ein heißer, langweiliger Sommer, und so haben sie die Zeit, die Idee weiterzuspinnen: Was ist mit denen, die keine 130.000 Mark zusammenkratzen können? (Sie wissen jetzt, was die Zukunft bereithalten könnte, und strengen sich an.) Was mit den reichen Unsympathlern? (Jeder muss davor ein paar Fragen beantworten, etwa ob er für kostenloses Schulessen ist oder ob er zu Bayern hält.)

Sie spielen Doppelkopf

Wir werden den Burschen später wieder begegnen, da sind sie schon älter und spielen Doppelkopf oder fahren nach Helgoland, und das Gedankenexperiment scheint zwischendurch keine größere Rolle mehr zu spielen, denn Saša Stanišić ist ein Künstler. Nur weil er eine Idee hat, muss er noch lange nicht daran festhalten, er jongliert mit ihr, lässt sie fallen, hebt sie wieder auf, wirft sie in die Luft und so fort, man könnte ihm ewig dabei zusehen, jedenfalls länger, als dieses Buch braucht, das kein Roman ist, aber auch kein klassischer Erzählband, sondern etwas dazwischen oder ganz etwas anderes.

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