Unternehmenskultur 4.0 

Digitalisierung wird in erster Linie als Technologiethema gesehen. Ein Fehler, sind sich die Experten einig. Denn sie beeinflusst die Unternehmenskultur massiv. 

„Digitalisierung ist kein Technologiethema“, stellt Andreas Schumacher gleich zu Beginn fest. „Ich selbst komme ja ursprünglich von der technischen Seite, war dann aber lang in der Forschung am Fraunhofer Institut – und dort hat sich herausgestellt, dass Digitalisierungsprojekte meistens an den gleichen – menschenzentrierten – Themen scheitern.“ Heute ist Schumacher Director Digitization bei VTU Engineering, einem Pharma-Technologie-Unternehmen. An seiner Seite hat er keine IT-Profis, Programmierer oder Software-Entwickler, sondern einen Prozessspezialisten von einer Versicherung und einen Psychologen. „Die beiden sind bei mir für Digitalisierungsprojekte zuständig, denn der Versicherungsexperte versteht aus seiner Erfahrung heraus einfach Prozesse perfekt und der Psychologe versteht, wie und warum die Menschen Lösungen annehmen.  
„Die meisten Digitalisierungsprojekte werden mit Technikern besetzt, das ist der völlig falsche Ansatz. Wichtig für den Erfolg eines solchen Projektes sind die ersten zehn Prozent, in denen der Bedarf festgestellt wird – und die letzten zehn Prozent, der Roll-out, also die Einführung in die Praxis. Das interessiert die reinen Techniker aber tendenziell wenig, die konzentrieren sich lieber auf den Mittelteil.“ Andreas Gnesda, Geschäftsführer des Consulting-Unternehmens teamgnesda, das auf Neue Arbeitswelten spezialisiert ist, rät dazu, auch Prozesse neu zu denken: „Das aus meiner Sicht größte Problem ist, dass analoge Prozesse digitalisiert werden. Üblicherweise setzt man ein Paar Abteilungsleiter mit einem IT-Experten zusammen, die ihm detailliert den derzeitigen Prozess schildern und dann wird der genauso digital abgebildet. Dann werden irgendwelche Zettel und Formulare, die man vorher per Hand von A nach B getragen hat, digital verschickt. Aber niemand fragt, wie sinnvoll eigentlich dieser Zettel noch ist. Das ist für mich keine Digitalisierung, denn sie nutzt die Chancen, die die Technologie eröffnet, nicht.“ Die Folge sind komplizierte Softwaresysteme und frustrierte Mitarbeiter. 

»Automatisierung hat eher den Prozessworkflow im Fokus, während Digitalisierung das Gesamtsystem im Blick hat.«

Andreas Schumacher 

Director Digitization bei VTU Engineering 

Subthema der Digitalisierung

Dem interessierten Leser mag in diesem ersten Absatz aufgefallen sein, dass stets von „Digitalisierung“ die Rede ist, nicht aber von „Automatisierung“, die doch eigentlich großes Thema dieser Ausgabe ist. Wo genau liegt der Unterschied? „Ich sehe Digitalisierung eher als ein sozioökonomisches Thema – wir nutzen Technologie, um uns anders zu verhalten, mehr Convenience zu haben, produktiver zu werden“, erklärt Schumacher. „Automatisierung ist das menschenunabhängige Ausführen von Prozessen. Sie hat also eher den Prozessworkflow im Fokus, während Digitalisierung das Gesamtsystem im Blick hat.“ In diesem Sinne ist also die IT-Automatisierung ein Subthema der Digitalisierung – und an der Grenze steht der Mensch: „Die Schnittstelle zwischen einem automatisierten System und dem Menschen ist für mich ein Digitalisierungsthema“, so Schumacher.  

Am Anfang steht das Ziel 

Nun, da Begrifflichkeiten geklärt sind und festgehalten wurde, wie man es am besten nicht macht: Wie digitalisiert man so, dass Mitarbeiter mit ihrem neuen digitalen Kollegen auch zusammenarbeiten? „In einer idealen Welt, in der man bei null anfängt, sollte man bei den Unternehmenszielen beginnen“, erklärt Schumacher. „Wenn ich mir in einer Schuhmanufaktur einen Maßschuh bestelle, dann zahle ich viel Geld dafür, dass der eben nicht automatisiert hergestellt wurde. Vielleicht würde ich aber gern wissen, woher das Leder kommt, wie die Kuh gehalten wurde. Dann gehe ich Richtung Transparenz für den Kunden und suche Lösungen in diesem Bereich: Das können QR-Codes sein, Apps, Blockchain-Technologien zur Sicherstellung der Herkunft.“  

»Automatisierung und Digitalisierung funktionieren dann, wenn man die Vorteile für die Mitarbeiter zeigen kann.«

Fazel Ansari 

Universitätsprofessor an der TU Wien 

Fazel Ansari, Universitätsprofessor für Datengetriebenes Instandhaltungsmanagement am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien, rät außerdem dazu, eine interne Zielgruppenanalyse durchzuführen: „Wer sind meine derzeitigen Mitarbeiter, wer sind mögliche neue Mitarbeiter? Die Menschen in jedem Unternehmen sind ganz unterschiedlich, in unterschiedlichen Altersgruppen, mit anderen Erfahrungen und Qualifikationen, an anderen Punkten in ihrer Karriere. Das sind die internen Kunden jedes Digitalisierungsprojektes.“ Wenn es also darum geht, an das idealerweise definierte Ziel zu kommen, sollte man sich der Stolpersteine bewusst werden – wo drückt die Mitarbeiter der sprichwörtliche Schuh? „Meiner Erfahrung nach funktionieren Automatisierung und Digitalisierung dann, wenn man die Vorteile für die Mitarbeiter aufzeigen kann“, so Ansari. Und das möglichst bald, fügt Schumacher hinzu: „Große Projekte können Jahre dauern – da sind zusätzliche kleine Projekte wichtig, bei denen Mitarbeiter bald eine Verbesserung spüren: der eine Button, den sich alle schon so lang wünschen. Urlaubsantrag per App, Krankmeldung per App. So kann man beide Welten bedienen – die großen, langsamen Projekte, die dem Unternehmen nutzen und die vielen kleinen, die den Mitarbeitern unmittelbar nutzen.“ 

Hilfe bei Berührungsängsten

Solche kleinen Benefits können auch Berührungsängsten und Technologieskepsis entgegengehalten werden, erklärt Ansari: „Zunächst stellen sich Mitarbeiter natürlich die Frage der Usability – kann ich mit dem neuen System umgehen, was muss ich lernen, gibt es Schulungen?“ 
Aber es gibt natürlich Unsicherheit: „Sammelt das System meine persönlichen Daten? Die Menschen haben Angst, dass über Transparenz und Informationsflüsse negative Konsequenzen für sie entstehen können – bin ich vielleicht nicht produktiv genug?“ Andreas Schumacher erzählt aus der eigenen Erfahrung bei VTU: „Wir haben Ende 2023 ein Dashboard veröffentlicht, in dem jeder Mitarbeiter seinen Workload sieht, die Urlaubsstunden, einfach generell, wie man in der Firma dasteht. Dies hat am Beginn natürlich auch zu Irritationen geführt.“ In der letzten Woche gab es eine Digitalisierungsumfrage, bei der abgefragt worden sei, wie zufrieden die Mitarbeiter mit den verschiedenen Lösungen seien, welches Feedback es gäbe. Die Informationstransparenz sei dabei von allen Aspekten am positivsten bewertet worden. „Oft hören wir nur die, die am lautesten Nein oder Ja schreien – die breite Mitte, die der Veränderung neutral gegenübersteht, übersehen wir oft. Eigentlich muss man aber genau die fragen, was man besser machen könnte.“ Schumacher räumt aber ein, dass man die Verbindung zwischen Transparenz und dem Gefühl der Überwachung nie ganz beseitigen wird können: „Das ist dann eine Frage der Führungskultur.“ Ein Aspekt, den auch Andreas Gnesda in den Mittelpunkt stellt: „Es geht um ein authentisches Mindset der Führungskräfte, um ehrliche und transparente Kommunikation mit den Mitarbeitern.“ Es bringe nichts, von Unterstützung und Verbesserung zu sprechen, wenn das eigentliche Ziel der Abbau von Mitarbeitern sei: „Es muss dem Unternehmen ehrlich um eine Verbesserung gehen. Mit jeder technologischen Entwicklung verändert sich die Arbeitswelt, dabei gehen bestimmte Jobs verloren und andere entstehen. Auch das kann man adressieren.“ 

»Am Ende des Tages geht es darum, Menschen zu entlasten, damit sie ihre Prioritäten besser setzen und Aufgaben einfacher durchführen können.«

Fazel Ansari 

Universitätsprofessor an der TU Wien 

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich über die technologische Entwicklung die Geschwindigkeit der Arbeit vervielfacht – hat man früher einen Akt physisch aus dem Archiv geholt, lädt man ihn jetzt in Sekunden aus der Cloud herunter, während im Posteingang Hunderte ungelesene E-Mails warten. Wenn man also von Produktivitätssteigerung spricht, stellt sich die Frage: Wie viel ist zu viel? Wie schnell ist zu schnell? „Geschwindigkeit ist ein Aspekt“, so Ansari, „aber zwei andere wichtige sind Konzentration und Qualität. Am Ende des Tages geht es ja darum, Menschen zu entlasten, damit sie ihre Prioritäten besser setzen und Aufgaben einfacher durchführen können. Wenn wir immer nur Technologien aufhäufen, geht der Mensch darin verloren. Es geht darum, eine neue Organisationskultur zu entwickeln, die den Mitarbeitern zugutekommt.“ 

This could have been an E-Mail

„Das hätte auch als Mail gereicht“, dieser Satz hat im Englischen bereits Kult-Charakter. Wie oft sitzt man gefühlt völlig sinnlos stundenlang in Meetings, um dann mit drei neuen Informationen und rauchendem Kopf an den eigenen Schreibtisch zurückzukehren, wo der volle Posteingang wartet. „Es ist auch eine Aufgabe von Führungskräften, den Mitarbeitern Freiräume zu schaffen“, meint Schumacher. „Wir haben uns vorgenommen beispielsweise Meetings nur mehr mit 50 oder 25 Minuten anzusetzen, damit man wenigstens ein paar Minuten Pause dazwischen hat. Man ist vom eigenen Kalender ohnehin schon so fremdbestimmt.“ Er selbst plant sich „Fokuszeiten“ ein, die er im Kalender blockiert: „Mein Kalender ist für alle offen, außer privaten Terminen und eben diesen Fokuszeiten – in denen bin ich für Termine nicht verfügbar.“ Die Lösung Viva Insights von Microsoft etwa, erzählt Schumacher, könne auch eigenständig den Kalender nach Lücken durchforsten und dann automatisiert Fokuszeiten blockieren: „Das wird immer mehr zum Thema – dieses ,mechanische Entspannen‘, wo mit geblockten Zeiten gezielt Geschwindigkeit rausgenommen wird.“  
Zunehmend werde es auch akzeptabel, Meetings abzusagen, die für einen selbst keinen Nutzen haben, sich aus Mail-Verteilern rauszunehmen, wenn man nicht betroffen ist. „Es wird langsam salonfähig und sogar als positiv betrachtet, wenn Mitarbeiter sagen: Ich suche mir gut aus, wo ich den besten Beitrag leisten kann.“ 

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