Gastkommentar

Lena Schilling und ihre Verfehlungen sind ein Anfang

„Der Standard“ strebt offenbar eine Gesellschaft an, in der wir alle übereinander Bescheid wissen.

Ich zitiere: „Das Niveau der Innenpolitik erreicht neue Tiefpunkte (…). Mit dem Fall Lena Schilling wurde eine Tür ins Privatleben aufgestoßen. Sie wird schwer wieder zu schließen sein“, schreibt Eva Linsinger im „Profil“. Und Florian Klenk im „Falter“: „Die Denunziationsgesellschaft (…) kommt wohlmeinend daher, als fürsorgliche, dem Opferschutz oder der Gefahrenabwehr dienende Kraft. Das macht sie so verdammt gefährlich für eine offene Gesellschaft.“

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Beide Kommentare bringen kluge Analysen, und in beiden fällt auf, dass die Zeitung, die mit ihrer Berichterstattung über Lena Schilling neue Tiefpunkte erreicht und der Denunziation Tür und Tor öffnet, nämlich die Tageszeitung „Der Standard“, nicht namentlich genannt wird. Und warum? Das macht man nicht gern in der Branche. Man beobachtet, kommentiert, aber bleibt zunächst einmal diskret. (Der „Falter“ hat eine Woche später allerdings eine große Analyse zu Blatt und Chefredakteur nachgereicht, Anmerkung der Red.)

Dass „Der Standard“ systematisch den Wahlkampf der Grünen kaputtmacht, ist nur ein Aspekt. Denn so naiv kann die Redaktion nicht sein, dass sie nicht wusste, was sie bewirkt. Aber merkwürdig ist das schon: Die FPÖ steht vor der Tür, und „Der Standard“ fällt im Wahlkampf über die Grünen her. Und nützt jenen Parteien, die Klimafragen für unwichtig halten. Die freuen sich, nachdem die Grünen hilflos und panisch auf die Vorwürfe reagiert haben. So gesehen ist es auch für den „Standard“ ein schöner Erfolg.

Anleitung zur Niedertracht

Aber noch wichtiger als diese Katastrophe der Grünen: „Der Standard“ strebt offenbar eine Gesellschaft an, in der wir übereinander Bescheid wissen – zu unserem eigenen Schutz. Niemand soll sicher sein vor Verrat, auch und besonders nicht im engen Freundeskreis. Es ist eine Anleitung zur Niedertracht. Alle sollen alles übereinander sagen. Liegt was vor? Die Zeitung druckt es, um uns zu schützen. „Der Standard“ fühlt sich dem allgemeinen Wohl verpflichtet, sagt er. Aber das geht nicht ohne Denunziation. Das Ausmaß der Bedrohung und das Grundsätzliche daran ist vielen nicht klar. Intellektuelle Schnappatmung. Damit ändert sich unser Zusammenleben grundlegend. Lena Schilling und ihre Verfehlungen sind ein Anfang.

Sowas, sie hasst die Grünen!

Und natürlich wird dabei denunziert. Die allzu redselige Lena Schilling „soll gesprochen haben“, sie „soll Überlegungen angestellt haben“, sie „soll betont haben“, ihre „Skepsis gegenüber der Partei soll auch noch bestanden haben“ und so weiter. Und dieser ganze Tratsch ist jetzt im „Standard“ (und danach in vielen anderen Medien) politische Berichterstattung, ohne Namen als Quelle, aber eidesstattlich bestätigt. Die Denunzianten schwören.

Der „Falter“ klärt nun auf, wie Lena Schilling im Chat mit einer vertrauten Freundin hin und her überlegt, ob sie sich den Grünen anschließen soll. Sie schreibt, sie habe „niemanden so sehr gehasst“ wie die Grünen. Nun ist es so: Jeder Mensch, der einer Partei nahesteht, fühlt sich berechtigt, über diese gelegentlich auch heftig zu schimpfen. Die Grünen haben diesen Ärger während der Koalition mit der ÖVP oft genug von eigenen Leuten erfahren. Und dass einer jungen Klimaaktivistin, die in der Lobau mit anderen aus Protest nächtigt und blockiert, die Grünen – noch dazu als Koalitionspartei – nicht radikal genug sind, ist naheliegend. Und weil Schilling jung ist und sich sicher wähnt vor Verrat, wählt sie im Chat mit der Freundin drastische Worte. Sie redet dabei nicht über die FPÖ, weil die für sie tausend Meilen entfernt ist. Sie schimpft über die Grünen, weil es die Partei ist, die ihr am nächsten ist. So einfach ist das zu erklären. Aber man kann es natürlich auch zum Denunzieren benützen. Und wer die Grünen verabscheut, wird gern danach greifen. In welche Welt geraten wir da?

Das ist der Verrat an einer treuen Leserschaft durch Jahrzehnte, die mit dem „Standard“ durch dick und dünn gegangen ist. Die Enttäuschung ist maßlos. Und spricht man mit anderen darüber, ist es wie beim FC Liver­pool: „You’ll never walk alone.“ Betroffenheit, Ärger, Ekel.

Fragen tauchen auf, die man lieber nicht stellen will: Zahlt sich das alles auf dem Abo- und Inseratenmarkt aus? Was verspricht sich „Der Standard“ davon? Keine Ahnung. Wir werden sehen.

Und was macht das mit der Spitzenkandidatin Lena Schilling? Sie argumentiert souverän in den Streitgesprächen zur EU-Wahl im Fernsehen. Sie tourt weiter im Wahlkampf. Aber der ganze Hass und Unflat, vor allem, aber nicht nur in den sozialen Medien, der seit den Attacken seit fast vier Wochen auf sie niedergeht und den man sich gar nicht vorstellen mag: Kann die 23-Jährige den wirklich an sich abperlen lassen? Dass sie aus eigenen Fehlern gelernt hat und dass aus all dem Dreck dennoch ein positives Menschenbild werden soll, kann man nur hoffen.

Die Grünen stolpern

Und die Grünen? Sie wirken entschieden weniger gefasst und souverän, kommen aus der Panik nicht heraus und stolpern zwischen verzeihlichen und unverzeihlichen Fehlern hin und her. Jubel der Gegner.
Bei den Grünen hat die Kampagne eingeschlagen wie eine Bombe.

Bei vermutlich nicht wenigen Leserinnen und Lesern auch. Leicht fällt es nicht, was für uns daraus folgt. Es ist ein Abschied, der schwerfällt, denn der „Standard“ hat seit Jahrzehnten zu meinem und dem Leben meiner Frau dazugehört. Aber die Zeitung hat ihren Kurs geändert – auch wenn sie das selber wahrscheinlich nicht so sieht. Wir haben unser Abonnement gekündigt.

Dr. Peter Huemer (*1941) war ab 1969 Mitarbeiter des ORF, u. a. Leiter der legendären Talkshow „Club 2“, danach etwa Moderator der Ö1-Reihe „Im Gespräch“.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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