Gastkommentar

Die russisch-orthodoxe Kirche auf Abwegen

Um der Kriegspolitik des Kreml theologische Weihen zu geben, bemüht die russisch-orthodoxe Kirche neuerdings das sperrige Motiv des „Katechon“.

Im Neuen Testament gibt es eine dunkle Stelle, in der von dem „Aufhalter“, dem sogenannten Katechon, die Rede ist. Er soll das Kommen des Antichristen verhindern. Paulus ermahnt hier die Thessalonicher, sich nicht verunsichern zu lassen, erst komme der „große Abfall vom Glauben“, dann werde der „Antichrist“ folgen. Solang es noch eine aufschiebende Macht gebe, trete das alles nicht ein. Einige Kirchenväter haben im Römischen Reich den Aufhalter gesehen. Andere erinnerten daran, dass Rom in der Apokalypse als „Hure Babylon“ bezeichnet werde.

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Das sperrige Motiv des „Katechon“ ist jüngst in einem Strategiepapier der russisch-orthodoxen Kirche aufgetaucht, um der Kriegspolitik des Kreml theologische Weihen zu geben. Russland sei ein Bollwerk gegen die westliche Dekadenz. Schon der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt hat in der Weimarer Krisenzeit ein Interesse an stabilen Ordnungsmächten entwickelt und dem autoritären Staat die Rolle des „Katechon“ zugeschrieben. Unter Rückgriff auf Schmitt hat nun der russische Ideologe Alexander Dugin, Mitglied des Moskauer Thinktank Katehon, Russland als „Aufhalter“ bezeichnet und die militärische Expansion Wladimir Putins begrüßt.

Satanischer Westen

Erstaunlich ist, dass die russisch-orthodoxe Kirche sich diese Ideologie zu eigen gemacht hat. Der Westen, der „das verbrecherische Regime in Kiew“ unterstütze, wird in dem Strategiepapier als satanisch eingestuft. Dem widersetze sich Russland in einem „Heiligen Krieg“. Statt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und den Überfall auf die Ukraine 2022 zu kritisieren, wird die „Spezialoperation“ zum Heiligen Krieg hochstilisiert. Bislang waren Heilige Kriege eine Spezialität des militanten Jihadismus.

Der Schulterschluss des Moskauer Patriarchen mit Putin fußt auf wechselseitigen Interessen. Die Kirche erhält vom Staat Geld und Privilegien, die Politik bekommt von der Kirche ideelle Unterstützung und Segen. Beide teilen die Ideologie der „russischen Welt“, die in der Dreiheit von Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen das eine Brudervolk sieht. Man glaubt, dass Moskau nach dem Fall von Konstantinopel 1453 die Rolle des „dritten Rom“ zugefallen sei, Häresien aufzuhalten.

Putin als von Gott erwählter Führer

Nach der feierlichen Vereidigung zur fünften Amtszeit von Präsident Putin am 7. Mai gab es ein theologiepolitisch aufschlussreiches Nachspiel. In der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale hielt der Patriarch eine Dankandacht ab und würdigte den Präsidenten als von Gott erwählten Führer. Wörtlich sagte er: „Gott helfe Ihnen, den Dienst, den Gott selbst Ihnen anvertraut hat, weiterhin mit Liebe zum Vaterland und mit Mut fortzusetzen.“ Er bekräftigte die Worte durch einen Segen. Das wirft die Frage auf, ob sich die russisch-orthodoxe Kirche als Magd der Politik andient – oder ob sie die heimliche Herrin der neoimperialen Agenda ist. Drei Wangenküsse zwischen Patriarchen und Präsidenten waren das sichtbare Symbol der Symbiose von Kirche und Staat.

Kyrill maßt sich an, gleichsam mit Gottes Auge zwischen guten und bösen Mächten in der Geschichte unterscheiden zu können. Das ist geschichtstheologisch heikel. Weiter stilisiert er Putin zu einem Instrument der Vorsehung, das Russland gegen den „Satanismus des Westens“ verteidige. Dabei wird das „Brudervolk“ der Ukraine wie der schlimmste Feind behandelt.

Das ist Blasphemie!

Der Patriarch verkennt das subversive Potenzial, das im Glaubensbekenntnis steckt. Wer sich an Christus als den „Herrn aller Herren“ wendet, sollte menschliche Potentaten nicht glorifizieren. Statt dem Rat von Papst Franziskus zu folgen, sich nicht zum Ministranten der Macht herabzuwürdigen, betreibt Kyrill eine gezielte Umwertung der Werte, wenn er den verbrecherischen Krieg Russlands als heilig bezeichnet. Damit widerspricht er einem russisch-orthodoxen Dokument zur Soziallehre von 2020, in dem es heißt: „Krieg ist das Böse. Seine Ursache ist der sündhafte Missbrauch der gottgegebenen Freiheit.“ Krieg könne allenfalls als notwendiges Übel zum Schutz des Nächsten oder zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit geduldet werden. Jetzt aber wird ein Heiliger Krieg ausgerufen. Das ist Blasphemie!

Der Glaube an den dreieinen Gott steht quer zu politischen Theologien der Macht. Ein trinitarischer Gott im Himmel eignet sich nicht, autokratische Herrscher auf Erden zu legitimieren. Kaum zufällig waren die Reichstheologen des 4. Jahrhunderts, die in Kaiser Konstantin einen göttlich legitimierten Herrscher sahen, alle Arianer, die Christus, den Sohn, Gott dem Vater unterordneten. Das Konzil von Nicäa 325, das gegen Arius die Gleichrangigkeit von Vater und Sohn lehrt und Gott als Beziehungswirklichkeit bekennt, sprengt Denkmuster, die die absolute Macht eines Herrschers mit der absoluten Macht Gottes rechtfertigen wollen.

Die russisch-orthodoxe Kirche betrachtet sich – wie ihre orthodoxen Schwesternkirchen auch – als Sachwalterin des Erbes der altkirchlichen Konzilien. Sie sollte die theologiepolitische Lektion, die im Dogma des Konzils von Nicäa liegt, als Anstoß begreifen, ihre fragwürdige Symbiose mit dem Regime Putins zu lösen. Das 1700-Jahr-Jubiläum des Konzils im kommenden Jahr ist dazu eine gute Gelegenheit. Stützt sie hingegen weiter Putins Kriegspolitik, ist sie nicht „Aufhalter“, sondern Verstärker der Zerstörung und damit Hure der Macht.

Jan-Heiner Tück (* 1967 in Emmerich, Deutschland) ist Professor am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien. Schriftleiter der Zeitschrift „Communio“.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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