EU-Wahl

ÖVP: Ein historischer Absturz in Zufriedenheit

ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka wurde trotz des Absturzes in der Parteizentrale bejubelt
ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka wurde trotz des Absturzes in der Parteizentrale bejubeltAPA / APA / Roland Schlager
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Nie war die Volkspartei bei einer EU-Wahl schlechter, man schrammte mit 24,7 Prozent nur knapp am historisch schwächsten Bundeswahl-Ergebnis vorbei. Warum die ÖVP trotzdem sehr gut damit leben kann.

Es mag gerade einmal fünf Jahre her sein, aber was sich Ende Mai 2019 vor der Lichtenfelsgasse 7 in der Wiener Innenstadt zugtragen hatte, könnte von aktuellen politischen Realitäten kaum weiter entfernt sein. Es war kurz nach dem blauen Ibiza-Crash, die ÖVP stand zwar einerseits nur einen Tag vor der Abwahl ihrer Regierenden, anderseits aber bejubelte sie einen historischen Wahlerfolg. Mit 34,55 Prozent gewannen die Türkisen die EU-Wahl – ein Rekordergebnis. Auf der Straße vor der Zentrale wurde gefeiert, es gab „Kanzler Kurz“-Sprechchöre – obwohl es keine nationale Wahl war und Kurz gar nicht auf dem Stimmzettel stand.

Fünf Jahre später wurden in der Lichtenfelsgasse wieder große Feierlichkeiten vorbereitet. Jedoch nicht bei der ÖVP, sondern rund 50 Meter weiter in einem Lokal namens Vino, das bezeichnenderweise einmal ÖVP-Parteilokal gewesen war – und diesmal Ort der Wahlparty der FPÖ war. Eine Gemeinsamkeit jedoch drängt sich auf: Wie schon 2019 stand auch heuer die Innenpolitik im Fokus des Wahlkampfs; für die ÖVP ging es darum, den Absturz der Krisenjahre einigermaßen zu bremsen.

Doch das Ganze stand unter keinem guten Stern. Reihum lehnten ÖVP-Politiker ab, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. So sprang einer in die Bresche, der eigentlich längst aus der ersten Reihe der Politik verschwunden war: Reinhold Lopatka, Klubchef, Staatssekretär und Generalsekretär aus rot-schwarzen Zeiten. „Lieber Reinhold, danke, dass du dir das antust“, rief ihm Kanzler Karl Nehammer zu Jahresbeginn von einer Wahlkampfbühne aus zu – das mag taktisch nicht sehr schlau gewesen sein, hatte aber jedenfalls seine Berechtigung. 

Historisch schlechte ÖVP

Lopatka wehrte sich bemüht gegen den von Meinungsforschern prognostizierten Absturz, der gestandene Europapolitiker spulte einen fehlerlosen – und unspektakulären – Wahlkampf ab. Um Punkt 8 Uhr war er am Sonntag unter den ersten Wählern in seinem gerade erst geöffneten Wahllokal nahe Hartberg, da wollte er noch immer nicht vom anscheinend unabwendbaren Fiasko ausgehen: Er habe „ein gutes Gefühl“, immer noch sprach er davon, mit der ÖVP die meisten Mandate holen zu wollen. Bevor er gen Wien aufbrach, besuchte er noch eine Feldmesse auf einem Fußballplatz.

In der Bundesparteizentrale schien indes niemand mit einem Wahlsieg zu rechnen. Die Stimmung war gedämpft, es wurden kleine Biere, Leberkässemmeln und Eis gereicht, die Geräuschkulisse vor der ersten Trendprognose bestand aus sanfter Jazzmusik und Gesprächen darüber, dass man mit einem zweiten Platz „völlig zufrieden“ sein könnte.

Um 17 Uhr gab es dann ein wenig Gewissheit – und versteinerte Mienen in der ÖVP-Zentrale. Als die erste Prognose einen zweistelligen Verlust auswies, hörte man im Raum unter den rund 100 Türkisen: rein gar nichts. Keinen Applaus, keinen Jubel, lediglich den ORF-Kommentar aus dem aufgestellten Lautsprecher. Erst als die Fernsehkameras liefen, rang sich die türkise Gesellschaft ein wenig Jubel ab. Die erste Ernüchterung ist nachvollziehbar: Denn die ÖVP hat nicht nur erstmals seit 15 Jahren eine EU-Wahl nicht gewonnen, sondern auch das historisch schlechteste Ergebnis bei Wahlen zum Europäischen Parlament eingefahren. Bisher lag dieses bei 26,98 Prozent und stammt aus dem Jahr 2014. Das schlechteste Ergebnis der ÖVP bei einer Bundeswahl – dieses liegt bei 23,99 Prozent im Jahr 2013 – gab es schließlich aber doch nicht, das Ergebnis inklusive Wahlkarten-Prognose sah die ÖVP bei 24,7 Prozent. Damit liegt die ÖVP nur knapp hinter den Freiheitlichen.

„Respektvolles Ergebnis“

Sohin herrschte letztlich doch Zufriedenheit unter den Anwesenden. „Das passt schon, solang wir vor den Roten sind“, sagte etwa ein ÖVP-Mann noch vor dem Endergebnis. So habe man ein Argument dafür, dass die ÖVP das Kanzlerduell mit FPÖ-Chef Herbert Kickl führe, und nicht die SPÖ. Das motiviere auch die Funktionäre für den Nationalratswahlkampf. Lopatka nannte das Ergebnis „bitter“, es sei aber „auch ein Auftrag“, den Rückstand zur FPÖ „wieder gutzumachen“. Er sprach von „einer gute Basis für die Nationalratswahl“. Generalsekretär Christian Stocker formulierte es ähnlich: „Wir sind von der dritten Position in den Wahlkampf gestartet“, Lopatka sei „ein hervorragender Spitzenkandidat gewesen“. Und: „Ich gratuliere ihm zum respektvollen Ergebnis.“ Später am Abend sollte es tatsächlich noch „Lopatka! Lopatka! Lopatka!“-Sprechchöre geben.

Stocker behauptete gar, dass der ÖVP angesichts der Umfragewerte im Frühjahr „eine Aufholjagd gelungen“ sei. Mit dem Verlust habe man „natürlich keine Freude“, sagte er. Aber die ÖVP liege so knapp hinter den Blauen, dass „ab jetzt die Aufholjagd für die Nationalratswahl im Herbst“ starte – und zwar trotz dieser nächsten ÖVP-Wahlschlappe mit Karl Nehammer als Parteichef. Auch Lopatka stellte Nehammers Parteivorsitz keineswegs infrage: „Wer, wenn nicht er?“

Nehammer selbst kam erst am späteren Abend in die ÖVP-Zentrale, und er sprach bei seiner Ankunft davon, dass er „die Botschaft der Wähler verstanden“ habe. Seine Erklärung für das deftige Minus: „Es gibt eine große Unzufriedenheit“, der Kanzler habe aber „den Anspruch, besser zu werden.“ Für die Wahl im Herbst sei „noch immer alles drinnen“. Auf die Frage, ob er nun mit einer Obmanndebatte rechne, sagte der ÖVP-Chef: „Ich bin Spitzenkandidat bei der Nationalratswahl.“

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