Europaparlament

Europas Mitte hält – aber sie bröckelt gewaltig

Ursula von der Leyen am 6. Mai 2024 in Paris zu Besuch bei Emmanuel Macron.
Ursula von der Leyen am 6. Mai 2024 in Paris zu Besuch bei Emmanuel Macron. Imago / Fred Dugit
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Die EVP sowie die Parteien rechts von ihr legen zu, die Sozialdemokraten bleiben stabil, Liberale und Grüne kassieren Verluste. Das Wahldebakel der Partei von Frankreichs Präsident Macron bringt Ursula von der Leyen in große Schwierigkeiten.

Brüssel. Europawahlen sind ein einfaches Spiel, könnte man in Abwandlung des berühmten Aperçus festhalten, welches der englische Fußballspieler Gary Lineker einst geprägt hatte: 22 (oder mehr) politische Parteien jagen hinter dem Wähler her, und am Ende gewinnt immer die Europäische Volkspartei (EVP). Die europäischen Christdemokraten setzen ihren jahrzehntelangen Siegeszug bei den Wahlen zum Europaparlament auch heuer fort und werden einmal mehr die größte Fraktion im Hohen Haus Europas stellen. Das zeigten bereits die ersten Hochrechnungen kurz vor 21 Uhr, bis zur letzten um 1 Uhr 15 verfestigte sich das Bild.

»Der grün-rote Kurs in Europa ist klar abgewählt und das gilt auch für die Ampel in Deutschland!«

Daniel Caspary

Chef der CDU/CSU-Delegation

So wurde klar, dass auch die ebenso traditionelle zentristische Mehrheit aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen in der Legislaturperiode von 2024 bis 2029 erneut die Mehrheit stellen wird können. Mindestens 400 der nun 720 Sitze im Plenum entfallen auf diese Koalition. Doch diese Mehrheit ist so brüchig wie wohl nie zuvor. Im vorherigen Parlament, das nur 705 Sitze zählte, hatten die drei größten politischen Gruppen noch 417 Mandate, und somit eine zumindest pro forma sattere Mehrheit.

Zudem ist Wahlergebnis geprägt von einem starken Ungleichgewicht innerhalb des Dreierbundes. Die EVP legte nach Mandaten auf voraussichtlich 184 zu, auch wenn die Sitzgewinne angesichts des Umstandes, dass das neue Parlament größer ist als das alte, imposanter wirken, als sie es real sind. Die Sozialdemokraten konnten in Summe ihre Verluste im kosmetischen Bereich halten. Sie fielen von 144 auf 139 Sitze..

Macrons Bärendienst für von der Leyen

Wirklich derb abgefertigt wurden hingegen die Liberalen. Sie verloren rund ein Fünftel ihrer Sitze und sanken von 102 auf 80 Mandate. Besonders schwer wiegt ihr Debakel in Frankreich. Die Partei von Präsident Emmanuel Macron schaffte nicht einmal die Hälfte der Stimmen des rechtsextremen Rassemblement National. Das sorgte nicht nur in Frankreich für ein innenpolitisches Erdbeben, das Macron zur sofortigen Auflösung des Parlaments in Paris und der Ausrufung von Neuwahlen veranlasste. Die Liberalen im Europaparlament sind durch seine Schwächung ebenfalls schwer angeschlagen, weil sie vor fünf Jahren auf Druck Macrons französische Kader an fast alle Entscheidungspositionen lassen mussten – allen voran die Klubführung durch die glücklose Valérie Hayer.

Und vor allem bedeuten diese vorgezogenen Neuwahlen, dass die Hoffnungen Ursula von der Leyens, der Spitzenkandidatin der EVP, rasch ihre ihre eigene Nachfolge als Präsidentin der Europäischen Kommission antreten zu können, enttäuscht werden dürften. Denn der Europäische Rat, auf dem die Staats- und Regierungschefs von der Leyen für dieses Amt vorschlagen sollten, findet am 28. Juni statt. Zwei Tage später jedoch ist der erste der beiden Durchgänge für die französische Parlamentswahl. Macron kann aus wahltaktischen Gründen unmöglich direkt davor die in Frankreich und vor allem bei den Anhängern des Rassemblement National unbeliebte von der Leyen erneut zur Anwärterin auf die Chefsessel in der Kommission küren. Der zweite Durchgang findet am 7. Juli statt, eine Woche später wird sich das neue Parlament in Straßburg konstitutieren. Sollte die Abstimmung über von der Leyen bei dieser Plenarsitzung erfolgen, müsste es davor noch einen Europäischen Rat geben, um sie zu nominieren. All das ist machbar, es drängt aber die Zeit.

»Ein Wind der Hoffnung hat sich über Frankreich erhoben, und er hat erst begonnen!«

Jordan Bardella

Chef des Rassemblement National

Von der Leyen selbst machte in der Nacht auf Montag nicht den Eindruck, von diesen Schwierigkeiten besonders bedrückt zu sein. Sie sprach ihrer Partei ein Lob aus und kündigte an, diese Woche Gespräche mit den Sozialdemokraten und den Liberalen aufzunehmen, um über ein gemeinsames Programm für die nächsten fünf Jahre zu verhandeln – und natürlich deren Unterstützung für sie als Präsidentin.

Grünes Debakel

Die Grünen hingegen spielen in ihren Überlegungen offenkundig keine Rolle. Selbst auf Nachfrage ließ sie sich nicht einmal eine Floskel über mögliche Gespräche mit ihnen entlocken. Die Grünen erlitten jedenfalls bei der Wahl ein Debakel. Im Vergleich zu 2019 verloren sie jeden vierten Abgeordneten und sanken von 71 auf vorläufig 52 Mandate. Zwar boten sie sich noch in der Wahlnacht als „Teil demokratischer Mehrheit“ an. Doch im Gegensatz zu vor fünf Jahren, als sie auf der Welle der Klimaschutzbewegung surfend exzellente nationale Ergebnisse erzielten, und sich somit ins Spiel bringen konnten, ist ihre Verhandlungsmacht nun minimal.

Die beiden Fraktionen rechts von der EVP legten erwartungsgemäß zu. Die Europäischen Konservativen und Reformer (hier sind die italienischen Fratelli d‘Italia nun die mit Abstand stärkste Delegation) kamen von 64 auf 73 Sitze. Die rechtsextreme Fraktion Identität und Demokratie (hier hat der Rassemblement National mit 31 Mandaten die Führung) fiel auf 58. Dieses Ergebnis erfasst aber nur die nationalen Parteien, die bereits als ID-Mitglieder deklariert sind. 45 sind vorläufig fraktionslos, weitere 53 komplett neu und keiner Fraktion zuordenbar. Das wird sich in den kommenden Tagen und Wochen ändern, und vor allem die ID und EKR werden viele diese Neuankömmlinge aufnehmen.

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