Morgenglosse

Ohne verlässliche Mitte ist Europa verloren

Rechtsnationalistin Marine Le Pen lehrt den EU-freundlichen Parteien das Fürchten. Sie deklassierte die Liberalen in Frankreich.
Rechtsnationalistin Marine Le Pen lehrt den EU-freundlichen Parteien das Fürchten. Sie deklassierte die Liberalen in Frankreich. AFP / Julien De Rosa
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Den Nationalisten das Feld zu überlassen, würde bedeuten, dass die EU keine Krise – von der Bedrohung durch Russland bis zum Klimawandel – mehr bewältigen kann. Es ist die letzte Chance.

FPÖ-Sieg in Österreich, Kantersieg des Rassemblement National in Frankreich, klare rechtsnationale Mehrheiten in Italien und Ungarn, eine gestärkte AfD in Deutschland: In unterschiedlicher Intensität je Land bedeutet dies einen Schock für alle Proeuropäer, die auf gemeinsame Lösungssuche setzen. Denn mit diesen Parteien ist keine der großen Krisen gemeinsam in Europa zu bewältigen. Sie akzeptieren keine innere Solidarität in der EU – sei es gegenüber Russland, sei es bei der Bewältigung des Klimawandels, der Migration oder der heraufdämmernden Handelskriege mit China und einer USA unter Donald Trump. Ihre Interessen enden bei den Außengrenzen ihres eigenen Landes.

Freilich: Es ist bloß ein erhebliches Erstarken, es ist noch keine Dominanz dieser nationalistischen Bewegungen. Europas Mitte-Parteien, die Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale, haben bei dieser EU-Wahl noch einmal eine Mehrheit im künftigen Europäischen Parlament geschafft. Noch einmal.

Würde es ihnen gelingen, ihren Mut zu europäischem Gestaltungswillen wieder zu aktivieren, könnten sie die EU als internationalen Machtfaktor retten, von manch Überregulierungen befreien und zu einem effizienten Schutzschild gegenüber äußeren sicherheits- und wirtschaftspolitischen Schocks etablieren. Dafür notwendig wäre allerdings, dass sie die EU nicht länger als Vorhof ihrer innenpolitischen Machtspiele missbrauchen. Etwa, indem sie von gemeinsam ausgehandelten Kompromissen im letzten Moment abrücken, die EU für eigene politische Fehlleistungen verantwortlich machen oder ihre eigene Mitverantwortung bei unpopulären EU-Regelungen verschleiern. Sie müssten darauf verzichten, das EU-Parlament ebenso wie den Rat der EU als das Schlachtfeld ideologischer Grabenkämpfe zu missbrauchen und dort kurzfristige Erfolge im Sinne ihrer Klientel über langfristige Strategien zu stellen.

Wenn Parteien wie die ÖVP, die SPÖ, die Neos oder wie die CDU, die SPD und die FDP es nicht schaffen, über den engen Horizont ihrer Gewerkschaften, Bauernvertreter oder Banken- und Wirtschaftslobbyisten hinaus, europäische Kompromisse mitzutragen, dann sind sie nicht besser als die Nationalisten. Ihr Irrglaube, damit Wählerinnen und Wähler abzuhalten, zum rechtsnationalen Rand zu wechseln, ist eine Illusion. Sie bereiten ihnen vielmehr das Feld. Schritt für Schritt werden sie damit noch mehr Macht verlieren.

Es gibt noch eine Chance: Wenn sie in den nächsten fünf Jahren beweisen können, dass das gemeinsame Europa stärker ist als Putins Autokratie, dass sie den Kampf um den digitalen Wandel und die künftige E-Mobilität gegen China gewinnen können und wenn sie aus dem Kampf gegen den Klimawandel einen Motor (keinen fossilen Verbrenner) für Wachstum und Arbeitsplätze entwickeln, dann retten sie nicht nur die EU, sondern sich selbst.

Sich nach dieser Wahl jammernd auf den Rücken zu legen wie eine gestürzte Schildkröte, sich in der Not jenen anzubiedern, die die EU destabilisieren wollen, die den Irrglauben der nationalen Souveränität als Lösungsansatz in globalen Krisen wie dem russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verbreiten, wird nicht helfen. Nur wenn Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale auf EU-Ebene eng kooperieren, können sie den Beweis antreten, dass Nationalismus in den meisten wesentlichen Zukunftsfragen nicht die Lösung ist.

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