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Die EU-Mitgliedschaft, eine scharfe Waffe gegen die Armut

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Seit der großen Beitrittswelle vor 20 Jahren ist das verfügbare Einkommen der Haushalte in den „neuen“ Mitgliedstaaten rasant gestiegen – und zwar wegen der Einbindung in den Binnenmarkt und der vielen neuen Möglichkeiten, in den anderen EU-Staaten zu arbeiten.

             

Oliver Grimm
"Die Presse"-Korrespondent in Brüssel

Oliver Grimm
 

„Neue EU-Mitglieder“: ich finde diese Bezeichung für jene Staaten, die ab 2004 der Union beigetreten sind, recht ärgerlich. Ab wann ist man denn kein „neues“ Mitglied im Klub der Europäer mehr? Wie lange waren Österreich, Finnland, Schweden „neue“ Mitglieder? In einer Hinsicht jedoch ist diese Gruppe von drei früheren Sowjetrepubliken, zwei ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken, sechs Warschauer-Pakt-Staaten sowie Malta und Zypern tatsächlich neu: an ihrem Beispiel kann man studieren, wie sich der Beitritt zum Gemeinsamen Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten auf den Wohlstand ihrer zuvor im Vergleich zur EU deutlich ärmeren Bürger ausgewirkt hat (Österreich, Schweden und Finnland waren bei ihrem Beitritt 1995 ja bereits reiche Gesellschaften).

Üblicherweise zieht man als Messgröße das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf heran, wenn man solche Wohlstandseffekte sichtbar machen will. Doch gibt diese Summe aller pro Jahr in einer Volkswirtschaft erstellten Leistungen und Waren abzüglich der Vorleistungen wirklich den Wohlstand der Menschen akkurat wieder? Besser ist für diesen Zweck das verfügbare Haushaltseinkommen. Es zeigt, wie viel Geld die Haushalte zum Leben haben.

Der Ökonom Zsolt Darvas vom Brüsseler Forschungsinstitut Bruegel hat die verfügbaren Haushaltseinkommen in den zwölf EU-Mitgliedern untersucht, die vor 20 Jahren in der bis dato und voraussichtlich für immer größten Erweiterungswelle beigetreten sind: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern, die 2004 dazukamen, sowie die Nachzügler Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 (Kroatien trat erst 2013 bei). Als Vergleichsgröße hat er die verfügbaren Haushaltseinkommen in einem gewichteten Durchschnitt von zehn west- und nordeuropäischen „alten“ Mitgliedstaaten errechnet: es sind dies Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Luxemburg, die Niederlande und Schweden. Alle Zahlen sind natürlich kaufkraftbereinigt.

Ergebnis: der Aufholprozess der zwölf jüngeren Mitgliedstaaten war spektakulär. 2004 lag das BIP pro Kopf der zwölf Neumitglieder bei 43 Prozent dessen der zehn reichen Altmitglieder. Das verfügbare Haushaltseinkommen war damals noch niedriger, nämlich nur 34 Prozent von jenem der Weststaaten. Zwei Jahrzehnte später lag das BIP pro Kopf bei 69 Prozent – doch das verfügbare durchschnittliche Haushaltseinkommen bereits bei 62 Prozent dessen im Westen. Es näherte sich also seit dem EU-Beitritt der zwölf Staaten dem westlichen Niveau schneller als das BIP pro Kopf.

Doch haben alle Menschen in diesen zwölf Staaten vom EU-Betritt profitiert, und heute mehr Geld zum Leben, als damals? Darvas hat die Gesellschaften zur Beantwortung dieser Frage in 20 Gruppen unterteilt: von den ärmsten fünf Prozent über die zweitärmsten fünf Prozent, und so weiter. Ergebnis: im Jahr 2004 hatten die ärmsten fünf Prozent in den zwölf Neumitgliedern nur 13 Prozent des Einkommens der fünf Prozent ärmsten in den reichen zehn Weststaaten. Zwei Jahrzehnte später hingegen betrug ihr durchschnittliches Haushaltseinkommen schon 54 Prozent dessen, was vergleichbare arme Bürger in den Weststaaten zur Verfügung hatten. Das ist zwar noch immer weniger als die 62 Prozent, über die alle Bürger in den Neustaaten im Durchschnitt verfügen. „Aber das Einkommenswachstum war sehr schnell“, sagte Darvas. Die ärmsten fünf Prozent in den „neuen“ Mitgliedstaaten hatten von 2004 bis 2023 reale Einkommensgewinne von 256 Prozent. „Das bedeutet, wenn das Einkommen im Jahr 2004 100 Euro betrug, stieg es real auf 356 Euro im Jahr 2023“, hält Darvas fest. 6,8 Prozent Einkommenswachstum waren das pro Jahr. Der EU-Durchschnitt betrug in derselben Periode 0,7 Prozent.

Woran lag dieser bemerkenswerte Aufholprozess? „Die EU-Mitgliedschaft eröffnete zahlreiche Gelegenheiten, um Wachstum anzutreiben“, schreibt Darvas. „Zum Beispiel wurden Marktinstitutionen gestärkt, was das Geschäftsklima verbesserte und Investitionen aus dem Ausland anzog, was wiederum das Produktivvermögen erhöhte und die Produktivität, und es hat die Unternehmensführung verbessert. Der Zugang zum Binnenmarkt hat den Wettbewerb erhöht und die Effizienz der Betriebe erhöht.“

Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit spielte eine große Rolle, indem sie „die Gelegenheit eröffnete, Arbeitspraxis in einem produktiveren Umfeld zu gewinnen, Fertigkeiten zu erhöhen und Ersparnisse aus Einkommen zu sammeln, die höher sind als zu Hause.“ Im Wege von Überweisungen und Investitionen in die Heimat erhöhte das ebenfalls die verfügbaren Haushaltseinkommen. Der Zugang zu hochqualitativer Bildung in anderen EU-Staaten verbesserte das Humankapital der jüngeren Generation. Die EU-Subventionen erwähnt Darvas nur in einem kurzen Nebensatz als wachstumsstützend. Wirksamer war die Entfesselung des Potenzials der Menschen dank der EU, sich selber höhere Einkommen zu erarbeiten.

Doch dieser Aufstieg ist kein Selbstläufer, warnt Darvas. Viele Wachstumseffekte waren wohl einmalig (wenn zum Beispiel eine alte Maschine durch eine moderne ersetzt wird, erhöht das die Produktivität der Fabrik, doch das kann man nicht oft tun). Die zwölf Neuankömmlinge „leiden schon an Arbeitskräftemangel, und der demografische Ausblick dieser Länder ist noch schlechter“ als in den westlichen Altmitgliedern. Zudem ist die Innovationskraft dieser Länder geringer als jene im Westen. „Die Schlüsselfrage wird sein, ob diese zwölf Volkswirtschaften zu Aktivitäten mit höherer Wertschöpfung hochschalten können“, resümiert Darvas. Und das, denke ich, gilt wohl für alle EU-Staaten gleichermaßen.

Eine erfolgreiche zweite Wochenhälfte wünscht Ihnen

Oliver Grimm

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