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AHF-Schladming 2024

Das Lenken komplexer Systeme und der Faktor Vertrauen

Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor von „FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit“.
Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor von „FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit“.Ben Kaulfus
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Systemlogik. Soziologe Harald Welzer plädiert für prozesshaftes Denken und den vertrauensvollen Blick auf das große Ganze.

Wie ist es um das Systemvertrauen in den westlichen Gesellschaften bestellt? „Alles andere als gut“, konstatiert der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer. „Bei immer mehr Menschen macht sich das Gefühl breit, dass sie nicht vertrauen können, sei es in die Politik, die Presse, die Demokratie oder in das Gesundheitswesen.“ Medien, so Welzer − u.a. Co-Autor (gemeinsam mit Richard David Precht) von „Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“− würden dabei eine verstärkende Rolle spielen, weil sie in erster Linie abbilden, was alles nicht funktioniert.

Prozess, nicht Zustand

Das Problem mangelnden Vertrauens wird in komplexen Systemen besonders offenkundig. Wenn komplizierte und facettenreiche Zusammenhänge Menschen überfordern, neigen diese unter anderem zur Problemreduktion. „Man nimmt sich ein Element heraus, für das es in der Regel bereits Lösungswege gibt. Dabei werden Fern- und Nebenwirkungen nicht ausreichend berücksichtigt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Blick auf das große Ganze leicht verloren geht, wenn jeder Systemteilnehmer nur seinen eigenen Teil im Auge hat“, so Welzer.

Grundsätzlich gilt es den Fehler zu vermeiden, Zustände zu betrachten und sie zu korrigieren. „Wir sind immer zu spät dran, weil Gesellschaft und Politik immer mit der Gegenwart beschäftigt sind. In einem komplex gewachsenen System, wie etwa dem österreichischen Gesundheitssystem, ist so eine Herangehensweise wenig effektiv, aufwendig und teuer – und am Ende verlieren immer alle.“

Denn komplexe Systeme sind in erster Linie als Prozesse zu verstehen. Ein angemessener Zeitraum, um Veränderung in einem komplexen System effizient zu gestalten, wären laut Welzer zumindest zehn Jahre. „Allerdings braucht es den Mut und die Fähigkeit, in diesen zehn Jahren Fehler zu korrigieren und Prozesse notfalls auch abzubrechen.“

Perspektivenwechsel

Gerät ein Prozess ins Stocken und sind die großen, entscheidenden Grundsatzfragen aus dem Blickfeld geraten, plädiert Harald Welzer für einen Perspektivenwechsel. Eine Möglichkeit, die Dinge anders sehen zu lernen, besteht darin, Menschen heranzuziehen, die von der eigentlichen Materie wenig oder nichts verstehen.

„Experten verständigen sich speziell in Krisenzeiten schnell auf eine Problemsicht und einen gemeinsamen Meinungsweg. Alternative Ideen und Lösungen werden so ausgegrenzt, weil sich die Gruppe bereits geeinigt hat“, sagt Welzer und fügt an: „Wenn Veränderung notwendig ist, können Expertise und Erfahrung negativ sein. Weil altes Wissen aktiviert wird, das zum neuen Geschehen gar nicht mehr passen muss.“

Im in die Kritik geratenen Gesundheitssystem könnte es ein sinnvoller Perspektivwechsel sein, sich wieder stärker den eigentlichen menschlichen Ressourcen zu widmen. „Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und jenes Vertrauen, das im Widerspruch zur Effizienz- und Kostenorientierung, zu permanenter Optimierung und zur reinen Konzentration auf das Funktionale steht. Denn etwas ,Weiches‘, wie ein Gespräch mit Patient:innen, kann viel heilsamer sein als das Verbleiben im funktionalen Betrieb. Und die Beziehungen zwischen Personen könnten entscheidender sein als Medikamente und Operationen.“

www.austrianhealthforum.at


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