Kopfkino

Wale am Strand

Alles hinter sich lassen und neu beginnen. Ein solcher Schritt kann nur gelingen, wenn er radikal gesetzt wird. Am besten am anderen Ende der Welt.
Alles hinter sich lassen und neu beginnen. Ein solcher Schritt kann nur gelingen, wenn er radikal gesetzt wird. Am besten am anderen Ende der Welt. Imago/Richard Ellis
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Ein Neustart im Leben sollte endgültig sein. Ohne Kompromisse. Ohne Fallnetz. Ohne Rückkehrrecht.

Es gibt da diese Szene in dem Film „Angel Eyes“ aus dem Jahr 2001. Steven (James Caviezel) zeigt Sharon (Jennifer Lopez) seine Wohnung. In einem der Zimmer liegt eine Matratze auf dem Boden, sonst ist sie komplett leer. „Du kennst sicher den Spruch, wonach jemand bei null beginnt“, sagt er. „So sieht das aus. Das ist null.“

Den Grund für Stevens Neustart im Leben erfährt Sharon erst nach und nach. Vor einem Jahr ist bei einem Verkehrsunfall seine gesamte Familie gestorben. Er gibt sich die Schuld dafür und irrt seither desillusioniert durchs Leben, hat keine Freude mehr, keinen Ehrgeiz, keine Ziele. Durch die Beziehung zu Sharon, die ebenfalls einen schweren inneren Konflikt zu bewältigen hat, fasst er neuen Lebensmut.

Was mir an dieser Prämisse so gefällt, ist Stevens Konsequenz. Er beginnt wirklich bei null, das ist nicht nur so eine Phrase. Er löst sich von allem, was ihn einst ausgemacht hat – Job, Freunde, Familie, Interessen, Hobbys. Sogar von sich selbst.

Falls ich je in die Situation komme, in meinem Leben die Reset-Taste drücken zu müssen, würde ich es wohl so machen wie Steven: radikal, kompromisslos und ohne Möglichkeit auf eine Rückkehr. Ein Neustart kann nämlich nur so funktionieren. Sich eine neue Frisur zu verpassen, in ein anderes Viertel zu ziehen und mit einer Trendsportart wie Padel-Tennis zu beginnen, ist kein Neustart, sondern eine Kurskorrektur. Wer von Neuem beginnen will, lässt alles hinter sich – Beruf, Land, finanzielles Polster, soziales Netz und große Teile von sich selbst.

Wie ich mir das vorstelle? Ich würde in eine Wüste fahren, mein altes Leben dort begraben und irgendwo anders ein neues beginnen. Eines ohne Last, ohne Druck, ohne Erinnerung. Eben eines, das bei null beginnt. Sollte ich also irgendwann verschwinden, ohne Abschied und ohne Abschiedsbrief, achtet auf die Videos von den Stränden Südamerikas, an denen namenlose Menschen mit sonnengebleichtem Haar und Sommersprossen im Gesicht gestrandete Wale zurück ins Meer schieben. Einer von ihnen könnte ich sein.

E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

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