Gastkommentar

Ukraine-Krieg: Alte Lehren und neue Erkenntnisse

Peter Kufner
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Krieg ist unberechenbar. Nach über zweijährigen Kampfhandlungen wütet der Krieg im Osten Europas noch immer.

Vor zwei Jahren habe ich acht Lehren aus dem Krieg gegen die Ukraine skizziert. Trotz meiner Warnung, dass es noch zu früh sei, um bei Prognosen allzu zuversichtlich zu sein, haben sich diese acht Lehren als ziemlich zutreffend erwiesen.

Als der russische Präsident, Wladimir Putin, im Februar 2022 den Einmarsch in die Ukraine befahl, rechnete er mit einer schnellen Einnahme der Hauptstadt Kiew und einem raschen Regierungswechsel. Doch der Krieg wütet weiter, und niemand weiß, wann und wie er enden wird.

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Wenn man den Konflikt als „Unabhängigkeitskrieg“ der Ukraine betrachtet und sich nicht zu sehr auf die Grenzen konzentriert, dann haben die Ukrainer bereits gewonnen. Putin hat geleugnet, dass die Ukraine eine eigenständige Nation ist, aber sein Verhalten hat die ukrainische nationale Identität nur gestärkt.

Was haben wir sonst noch gelernt? Erstens: Alte und neue Waffen ergänzen sich gegenseitig. Trotz des anfänglichen Erfolgs der Panzerabwehrwaffen bei der Verteidigung von Kiew habe ich zu Recht davor gewarnt, dass sich die Vorhersage, das Zeitalter der Panzer sei vorbei, als verfrüht erweisen könnte, als sich der Kampf von den nördlichen Vororten in die östlichen Ebenen der Ukraine verlagert hat.

Abschreckung funktioniert

Allerdings hatte ich weder mit der Wirksamkeit von Drohnen als Panzer- und Schiffsabwehrwaffen gerechnet, noch damit, dass die Ukraine die russische Marine aus der westlichen Hälfte des Schwarzen Meers vertreiben könnte. (Artillerie und Minen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, da sich der Konflikt zu einem Grabenkrieg im Stil des Ersten Weltkriegs entwickelte.)

Zweitens: Die nukleare Abschreckung funktioniert. Der Westen hat sich abschrecken lassen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Putins nukleare Drohung hat die Nato-Regierungen davon abgehalten, Truppen (wenn auch nicht Ausrüstung) in die Ukraine zu schicken. Der Grund dafür ist jedoch nicht, dass Russland über überlegene nukleare Fähigkeiten verfügt, sondern vielmehr, dass Putin die Ukraine zu einem grundlegenden nationalen Interesse Russlands erklärt hat, während die westlichen Regierungen dies nicht getan haben. Inzwischen hat Putins nukleares Säbelrasseln den Westen nicht davon abgehalten, die Reichweite der Waffen, die er der Ukraine liefert, zu erweitern. Der Westen hat Putin auch bisher davon abgehalten, Nato-Staaten anzugreifen.

Drittens: Gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit verhindert keinen Krieg. Einige deutsche Politiker gingen davon aus, dass ein Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland so kostspielig wäre, dass keine Seite offene Feindseligkeiten zulassen würde. Wirtschaftliche Interdependenz kann zwar die Kosten eines Kriegs erhöhen, aber sie verhindert ihn nicht notwendigerweise. Ungleiche wirtschaftliche Interdependenz kann von der weniger abhängigen Partei als Waffe eingesetzt werden.

Viertens: Sanktionen können die Kosten erhöhen, aber sie entscheiden nicht kurzfristig über den Ausgang eines Kriegs. Es sei daran erinnert, dass CIA-Direktor William Burns im November 2021 mit Putin zusammentraf und ihn vergeblich vor Sanktionen im Fall einer russischen Invasion warnte. Putin zweifelte wahrscheinlich daran, dass der Westen die globale Einigkeit über Sanktionen aufrechterhalten könnte, und er hatte recht. Öl ist ein fungibles Gut, und viele Länder, nicht zuletzt Indien, importieren gern billiges russisches Öl, das von einer unregelmäßig fahrenden Tankerflotte transportiert wird.

Informationskrieg maßgeblich

Wie bereits vor zwei Jahren prognostiziert, scheint die Furcht Chinas, in sekundäre Sanktionen verwickelt zu werden, zu einer Einschränkung seiner Unterstützung für Russland geführt zu haben. China hat zwar wichtige „Dual Use“-Technologien (die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können) geliefert, aber auf Waffenlieferungen verzichtet. Angesichts dieses uneinheitlichen Bilds wird es noch dauern, bis die langfristigen Auswirkungen der Sanktionen auf Russland in vollem Umfang beurteilt werden können.

Fünftens: Der Informationskrieg macht den Unterschied. In modernen Kriegen geht es nicht nur darum, wessen Armee gewinnt, sondern auch darum, wessen Geschichte gewinnt. Die vorsichtige Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen durch die USA, die Russlands Invasionspläne enthüllten, entlarvte erfolgreich das Narrativ, das Putin den Europäern glauben machen wollte, und trug wesentlich zur westlichen Solidarität bei, als die Invasion wie vorhergesagt stattfand. In ähnlicher Weise hat der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, außerordentliche Arbeit geleistet, um die Geschichte seines Landes im Westen zu verbreiten.

Sechstens: Sowohl harte als auch weiche Macht sind wichtig. Auch wenn die harte Macht des Zwangs die weiche Macht der Anziehungskraft kurzfristig übertrifft, zählt weiche Macht immer noch sehr viel. Putin hat den Soft-Power-Test schon früh nicht bestanden.

Russische Barbarei

Die schiere Barbarei der russischen Streitkräfte in der Ukraine hat Deutschland schließlich dazu gebracht, die Gaspipeline Nord Stream 2 aufzugeben. Selenskij hingegen setzte von Anfang an auf weiche Macht. Indem er sein schauspielerisches Talent nutzte, um ein attraktives Bild der Ukraine zu zeichnen, gewann er nicht nur die Sympathien des Westens, sondern sicherte sich auch die Lieferung militärischer Ausrüstung.

Siebtens: Cyberfähigkeiten sind kein Allheilmittel. Russland hat mindestens seit 2015 Cyberwaffen eingesetzt, um ins ukrainische Stromnetz einzudringen, und viele Experten sagten voraus, dass ein Cyberangriff auf die ukrainische Infrastruktur und Regierung jede Invasion zu einem Fait accompli machen würde. Doch obwohl es während des Kriegs viele Cyber-Angriffe gab, erwies sich keiner als entscheidend. Die ukrainische Cyber-Verteidigung und -Offensive haben sich durch Training und Erfahrung auf dem Schlachtfeld nur verbessert. Eine weitere Lehre ist, dass kinetische Waffen den Kommandeuren schnellere Einsatzzeiten, höhere Präzision und bessere Schadensabschätzung ermöglichen als Cyberwaffen.

Die Hunde des Krieges

Schließlich ist Krieg unberechenbar. Diese wichtigste Lehre aus dem Krieg in der Ukraine ist nach wie vor eine der ältesten. Vor zwei Jahren rechneten viele mit einem schnellen Sieg Russlands, und noch vor einem Jahr gab es große Hoffnungen auf eine triumphale ukrainische Sommeroffensive. Doch wie Shakespeare vor mehr als vier Jahrhunderten schrieb, ist es für einen Anführer gefährlich, „Mord! zu rufen und die Hunde des Krieges zu entfesseln“.

Das Versprechen eines kurzen Kriegs ist verführerisch. Putin hat sicher nicht damit gerechnet, auf unbestimmte Zeit festzustecken. Es ist ihm gelungen, dem russischen Volk seinen Zermürbungskrieg als „großen patriotischen Kampf gegen den Westen“ zu verkaufen. Allerdings könnten sich die von ihm entfesselten Hunde noch gegen ihn wenden und ihn beißen.

Aus dem Englischen von Andreas Hubig.
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Der Autor

Joseph S. Nye (*1937) ist emer. Professor an der Harvard Kennedy School und ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister und Autor. Zuletzt: „Life in the American Century“ (Polity Press, 2024).

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