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Das ist der beste Artikel aller Zeiten, den Sie je gelesen haben

Einmal nicht Taylor Swift: Tom Odells „Another Love“ führt in Österreich das Streaming-Ranking an - und wird gleich als „meistgestreamter Song aller Zeiten“ gepriesen. Finden Sie den Fehler...
Einmal nicht Taylor Swift: Tom Odells „Another Love“ führt in Österreich das Streaming-Ranking an - und wird gleich als „meistgestreamter Song aller Zeiten“ gepriesen. Finden Sie den Fehler... IMAGO/Justin Ng / Avalon
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Das Prassen mit Superlativen war schon immer gängige PR-Praxis. Dass es seit geraumer Zeit überhandnimmt, hat auch mit den Wertesystemen des Internetzeitalters zu tun.

Wer als Kulturjournalist arbeitet, hat viel mit PR zu tun. Zu viel: Ohne mentales Schutzschild können einem die unablässigen Marketing-Kanonaden das Hirn durchlöchern. Doch mit der Zeit lernt man, damit umzugehen, die Spreu des Werbesprechs vom Weizen des Wissenswerten zu trennen – und orgiastische Jubelmeldungen auf ihren Sinngehalt abzuklopfen.

Wenn einem also zum Beispiel eine Presseaussendung in die Mailbox flattert, in der überschwänglich verkündet wird, das Online-Debüt der jüngsten Serie eines großen Streaminganbieters sei dessen „meistgesehene Serienpremiere“ bisher, stellt man sich erstmal die Frage, wie viele solcher Premieren es bis dato überhaupt auf besagter Plattform gegeben hat. 100? Chapeau. Fünf? Papperlapapp!

Kleine Nagelproben wie diese sind keine große Kunst. Dennoch lohnen sie sich nur selten. Denn seit geraumer Zeit grassiert ein Trend im PR-Gewerbe, der den Superlativ zum Nonplusultra der Kulturvermarktung erkoren hat – und Erfolg in absoluten Zahlen misst. Je größer die Zahl, desto „besser“ das Album, der Film, die Ausstellung. Fast wie zu Zeiten der Stachanow-Bewegung in der Sowjetunion: Das Plansoll wurde um 315 Tonnen übererfüllt! Die Kolchosbäuerin hat den Erntegewinn bei roten Rüben um 87 Zentner gesteigert! Die neue Hitsingle wurde auf Spotify in drei Tagen über 500.000 Mal gestreamt! Der Sommerblockbuster hat bereits am ersten Startwochenende das beste Einspielergebnis der letzten zehn Jahre erzielt! Gigantisch. Fantastisch. Historisch.

Für Donald Trump ist alles „tremendous“ oder „truly great“

Dass PR-Abteilungen mit Publikumszahlen und kommerziellen Erfolgen hausieren gehen, ist nichts Neues. Dennoch befremdlich, wie beliebt diese Werbemethode inzwischen ist, quer durch die Kultursparten – und wie inflationär der Gebrauch boulevardesker Attraktionsmarker von „Beste“ bis „Meiste“. Freilich: Die Tendenz kommt nicht von ungefähr, sie fügt sich nahtlos ins strapazierte Wertesystem unserer oft überforderten Leistungsgesellschaft. Worauf ist dieser Tage noch Verlass? Wem kann man wirklich vertrauen? Keine Ahnung – aber Zahlen lügen nicht, und viel ist auf jeden Fall besser als wenig!

Alles, was sich hoch beziffern lässt, hat demnach Aufmerksamkeit verdient. Und das Beste ist gerade gut genug. Mit dieser Gewinnermentalität hat es Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten geschafft – für ihn ist alles, was er sich an die Fahne heftet, unweigerlich „tremendous“ und „truly great“, sonst wäre es gar nicht der Rede wert. Eine doch sehr amerikanische Einstellung, die sich im Zeitalter der digitalen (Selbst-)Vermessung der Welt rasant verselbständigt hat. Klicks, Likes, Follower: Mehr ist in diesem Universum fraglos mehr, und ein Blick auf die zugehörige Zahl genügt, um die mediale Relevanz einer Internet-Erscheinung abzuschätzen.

Sie könnten der erste Mensch sein, der diesen Artikel zu Ende liest!

Für sehr viele – vielleicht sogar für „die meisten“ – ist diese Art der Blitzbeurteilung längst Teil ihres Alltags im Netz. Kein Wunder, dass entsprechende Maßstäbe sich auch anderswo durchzusetzen beginnen. Auch im Nachrichtenwesen machen sie sich bemerkbar: Wo man sich einst um die Auflage sorgte, blickt man nun bang auf die Online-Aufrufe einzelner Artikel. Dabei ist jedem klar, dass Quantität nichts mit Qualität zu tun hat: Nur weil ich 200 Katzen zu Hause habe, macht mich das nicht zum „besten“ Haustierhalter – eher im Gegenteil. Aber in einer Welt, in der alles verzweifelt nach Geltung ringt, schaffen es nur noch Höchstwerte auf den Radar. Deshalb sieht man auch immer öfter Listen, die die „besten“ Filme, Bücher oder Nasenhaartrimmer „aller Zeiten“ anpreisen: Wer über die prophetische Fähigkeit verfügt, zukünftige Instanzen in seine Vergleiche einzubeziehen, ist nicht zu schlagen.

Sei’s drum: Wussten Sie, dass dieser Artikel mehr als 3000 Zeichen zählt? Leerzeichen sind da noch gar nicht inkludiert! Diese monumentale Rekordsumme übertrifft die Zeichenzahl jedes Twitter-Postings um ein Vielfaches. Ganz klar: Es handelt sich um die beste Textlänge des Jahres 2024. Oder hat sich das Prassen mit Superlativen vielleicht schon abgenutzt? Sind wir bereits beim Comeback der Bescheidenheit? Dann ignorieren Sie bitte all das großsprecherische Getue. Dieser Artikel ist trivial und völlig irrelevant. Bislang hat ihn kein Mensch zu Ende gelesen. Sie könnten der Erste sein!

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