Gastkommentar

Bilanztricksereien: Verkommt gerade die Wahrheit?

Österreich wirkt wie ein Tummelplatz für Bilanzfälschungen. Ein bisschen lügen ist nicht so schlimm, oder?

Hypo Alpe Adria, Steinhoff, Wirecard, Commerzialbank, Signa und jetzt Voestalpine. Auch Österreich scheint ein Tummelplatz für Bilanzfälschungen zu sein. Über Jahre hinweg vorgenommene Bilanzmanipulationen belasten aktuell den Technologiekonzern Voestalpine. Ein Manager, der aktuell nicht mehr für das Unternehmen tätig ist und für eine deutsche Tochtergesellschaft gearbeitet hat, soll aus karrieretechnischen Gründen die Unternehmensbilanzen der vergangenen zehn Jahre aufgehübscht haben.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Aber sind Loyalität und Integrität nur mehr Floskeln? Verkommt die Wahrheit? Ein bisschen lügen ist doch gar nicht so schlimm, oder? De facto sind Manipulationen in der Rechnungslegung ebenso klassische Formen der Lüge.

Wahrhaftigkeit und Lüge

Immanuel Kant (1724–1804) vertrat eine radikale Auffassung davon, was unter einer Lüge zu verstehen ist. Der Philosoph, der den „Kategorischen Imperativ“ geprägt hat, argumentiert, dass der Mensch prinzipiell kein Recht zur Lüge besitzt – und scheint die Lage auch noch so ausweglos. Auch wirtschaftliche Krisen und schwierige Konjunkturbedingungen der Unternehmen sind keine Ausrede. Kants Fazit: Die Lüge erschwert das Miteinander. Sein Ausweg? Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit.

Wahrhaftigkeit ist aber etwas anderes als bloße Wahrheit. Beispielsweise kann ein Mensch wahrhaftig sein und trotzdem lügen. Der Manager und der Buchhalter der Voestalpine können wahrhaftige Menschen sein, sich aber dennoch des Mittels der Lüge bedienen. Wahrhaftigkeit schließt also Lüge nicht per se aus.

Wenn wir heute also von Wahrheit sprechen, so meinen wir meist die reine abstrakte Wahrheit, also das „Wahrsein“ im Sinne der Übereinstimmung mit einem faktischen Sachverhalt. Anders verhält es sich, wenn von Wahrhaftigkeit gesprochen wird, denn sie berührt die Philosophie in ihrem innersten Kern.

Kant als Orientierung

Es gilt: Wahrhaftigkeit ist als Tugend zu verstehen, die Bezüge zur Moral und Ethik aufweist – und damit auch Ehrlichkeit umfasst. Wahrhaftigkeit also ist mehr als bloße erkenntnistheoretische Wahrheit, auch für Kant, wenngleich das bei einer Stammtischrunde keine allzu große Rolle spielt. Für die Philosophie tut es das in jedem Fall.

Kant hat uns noch immer viel zu sagen. Speziell in Zeiten der Postfaktizität erscheint der Denker als wichtiger Mahner für den richtigen Umgang mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Natürlich hat es Kant heute schwer, denn wer möchte sich schon von einem Philosophen in seinen Chancen einbremsen lassen? Zudem gibt es Umstände, unter denen das „Wahrheit-Sagen“ nicht immer der moralisch richtige Weg sein muss.

Apropos Wahrheit: Kant würde Bilanzfälschungen, die für eigene Zwecke vorgenommen werden, wohl strikt unter das Element der Lüge subsumieren. Der moralphilosophische Ratschlag Kants für den Ex-Manager der Voestalpine und seinen Buchhalter könnte da lauten: „So nicht! Ein bisschen mehr Uneigennützigkeit und Pflichtbewusstsein vor purem Egoismus!“ Die Hoffnung, dass Loyalität und Integrität gesellschaftlich und auch im Sektor der Rechnungslegung noch nicht gänzlich verloren sind, besteht also noch. Die Entscheidung liegt immer beim Individuum und somit bei uns allen.

Marlon Possard lehrt und forscht als Habilitand am Department für Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Politik und am Research Center Administrative Sciences an der FH Campus Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.