Culture Clash

Bei jungen Menschen stieg die Störung der Geschlechtsidentität um das Achtfache

Michael Prüller fragt sich, was hinter dem Anstieg an Transsexualismus steckt.
Michael Prüller fragt sich, was hinter dem Anstieg an Transsexualismus steckt.Clemens Fabry
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Der Anstieg junger Menschen, die sich als transsexuell empfinden, braucht Antworten ohne Engführung. 

Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen, die in die Zeit der „Presse am Sonntag“ fällt, ist das rapide Ansteigen des Transsexualismus bei jungen Menschen. Symptomatisch sind die Patientenzahlen des Londoner Gender Identity Development Service (GIDS), dem einzigen Zentrum für Identitätsstörungen von unter 18-Jährigen im englischen Gesundheitswesen: Seit 2009 sind sie in nur acht Jahren von 97 auf 2519 explodiert. Diese Entwicklung ist auch für Deutschland belegt: Eine kürzlich im Deutschen Ärzteblatt erschienene Studie zeigt, dass dort seit 2013 die Diagnosen „Störung der Geschlechtsidentität“ bei Menschen unter 25 Jahren um das Achtfache angestiegen sind.

Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren

Die Studie bestätigte weitere Phänomene: Überproportional betroffen sind Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren. Sehr häufig werden zusätzlich Depressionen, Angststörungen, Borderline oder posttraumatische Belastungen diagnostiziert. Und in 65 Prozent der Fälle (73 Prozent bei den Mädchen) besteht die Transsexualitätsdiagnose nach fünf Jahren nicht mehr. Das legt nahe, dass soziale Faktoren eine große Rolle spielen, etwa der durch Social Media vergrößerte Gruppendruck oder die frühe, massive Konfrontation mit Internetpornografie.

Alles schreit nach gründlichen Untersuchungen, wie weit der Wunsch nach einem anderen Körper (und eine erhöhte Suizidneigung) Symptom einer anderen, traumatischen Ursache sein kann, die eigentlich behandelt gehörte. Und werden medizinische Maßnahmen wie Pubertätsblocker und chirurgische Eingriffe nicht vielfach vorschnell und unnötig vorgenommen?

Ideologisierung des Themas

Ein vorsichtig abwägender Zugang ist allerdings erheblich erschwert durch die – in der Medizingeschichte einzigartige – Ideologisierung des Themas. Ende der 1990er-Jahre setzte sich durch, Transsexuelle als Teil der LGB-Community zu sehen. Damit wurden Identitätsstörungen zu einem Teil des großen postfeministischen Emanzipationskampfes, in dem es eigentlich um die Normalisierung verpönter Lebensentwürfe ging. Menschen, die aus unterschiedlichen Grün­den auf unterschiedliche Art an einer Disharmonie zwischen Körper und Geschlechtsempfinden leiden, wurden zur verfolgten Minderheit.

Damit ging eine Verschiebung vom Medizinischen zum Politischen einher: Nicht mehr die adäquate gesundheitliche Begleitung steht im Mittelpunkt, sondern Rechte und Anerkennung. Wo eigentlich evidenzbasierte Forschung den Ton angeben sollte, etablierte sich durch die Vermischung von Experten- und Aktivistentum vielerorts eine Art Kult, in der mantraartig Kindern und ihren Eltern ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlagen die Transition eingeredet wurde.

»Ein vorsichtig abwägender Zugang ist allerdings erheblich erschwert durch die Ideologisierung des Themas.«

Der Bogen scheint überspannt zu sein: Die britische Regierung hat heuer nach Rücktritten von 35 Psychologen (auch deswegen, weil fachliche Kritik als „transphobisch“ abgetan wurde) und dem vernichtenden „Cass-Report“ das GIDS in London aufgelöst, im weiteren Verlauf wurden – wie schon in Schweden oder Norwegen – Pubertätsblocker für Kinder eingeschränkt. Ein weiterer Augenöffner wa­ren geleakte Protokolle aus der World Professional Association for Transgender Health (WPATH), die zeigten, auf wie tönernen Füßen die ­Wissenschaft und die Standards dieser Or­ganisation stehen, deren Empfehlungen als „Expertenkonsens“ verkauft wurden.

Problem sei eines des schmerzhaften Seins

Ob daraus die Entideologisierung wird, die die Betroffenen bräuchten, ist noch nicht klar. Jene Lobby ist noch mächtig, der es weniger um den medizinisch-psychologischen Fortschritt geht, als um die Dekonstruktion der hetero- und cis-normativen Bürgerlichkeit. Die Ampelkoalition in Berlin hat heuer etwa jedem Deutschen per Gesetz erlaubt, sein Geschlecht selber völlig frei festzulegen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die damit postulierte Irrelevanz der Geschlechter wirklich den Menschen nützt, die in ihrem Körperbewusstsein leiden. Desgleichen ihre Vereinnahmung als queer, was jede medizinische Vorsichtsmaßnahme zu einem Affront gegen die LGBTQ-Bewegung macht: Ihr Problem ist ja eines des schmerzhaften Seins. Es kann nicht mit öffentlicher Anerkennung allein gelöst werden, sondern braucht – anders als bei Schwulen oder Lesben – den Arzt oder Psychologen, und das ohne jede ideologische Engführung.

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