Analyse

Die neuen Waffen der roten Furie

Man of the Match und Sonderapplaus in der Kabine: Spaniens Flügelflitzer Nico Williams.
Man of the Match und Sonderapplaus in der Kabine: Spaniens Flügelflitzer Nico Williams. Getty Images
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Eine Galavorstellung macht Spanien zum neuen Titelfavoriten Nummer eins. Verfügt diese neu formierte Mannschaft schon über alle Zutaten für die Rückkehr auf den Fußballthron?

Gelsenkirchen/Wien. Das sonst eher monotone Nachspiel in den Stadion-Katakomben war dieses Mal genauso aufsehenerregend wie das Spektakel, das die Spanier zuvor gegen den hoffnungslos überforderten Titelverteidiger aus Italien auf den Rasen gezaubert hatten. Denn der eigentlich zurückhaltende Teamchef Luis de la Fuente tätigte derart selbstbewusste Aussagen, dass diese auch in den Trainingscamps der Franzosen, Engländer und Deutschen angekommen sein dürften.

„Wir können uns auf jeden Fall weiter verbessern. Wo die Grenzen sind, das weiß ich nicht“, erklärte de la Fuente. Oder: „Alle Spieler haben unglaubliches Potenzial, das sie noch nicht ausgeschöpft haben.“ Noch wuchtiger: „Spanische Fußballer sind die besten der Welt.“

Die EM hat mit Spanien einen neuen Titelkandidaten Nummer eins – es ist der vorläufige Höhepunkt einer erstaunlichen Entwicklung.

Klasse auch im Kollektiv

Noch vor einem Jahr stand de la Fuente in der Heimat heftig in der Kritik. Der Coach sei zu blass und zu leise, seiner Mannschaft fehle der Esprit, monierten Experten und Medien. Mit dem Gewinn der Nations League, wo im Halbfinale ebenfalls Italien bezwungen wurde, begann der positive Prozess im Team des Europameisters von 2008 und 2012, das bei der WM in Katar 2022 noch so enttäuscht hatte und im Achtelfinale ausgeschieden war.

Nun aber sind alle Zutaten für den großen Coup vorhanden, Gruppensieg und Achtelfinale sind vorzeitig fixiert. Spanien schickt sich an, auf den Fußballthron zurückzukehren. Die Abwehr, verkörpert durch Dauerläufer Daniel Carvajal, agiert bissig und ist mit allen Wassern gewaschen. Das Mittelfeld um den überragenden Rodri und Fabián Ruiz besticht mit Präsenz und Übersicht. Supertalent Pedri steuert die offensiven Geistesblitze bei, und die pfeilschnellen Flügelflitzer Nico Williams und Lamine Yamal erinnern mit ihren Tempodribblings phasenweise schon an einen gewissen Lionel Messi. Das große Kunststück: In diesem spanischen Team funktioniert die individuelle Klasse auch im Kollektiv.

Will man eine Schwachstelle ausmachen, dann am ehesten den Umstand, dass die Italiener mit dem 0:1-Endstand mehr als gut bedient gewesen sind und die Spanier reihenweise hochkarätige Torchancen vergeben haben. Schon zur Pause hätten sie die Partie entschieden haben müssen. Kapitän und Mittelstürmer Álvaro Morata hat in dieser Mannschaft aber die Chance, endlich zu jenem Torjäger („Goleador“) zu werden, den das Land seit Jahren herbeisehnt.

Nicht mehr nur Tiki-Taka

Wiederbelebt hat Teamchef de la Fuente die „Furia Roja“, indem er das viele Jahre lang gefürchtete, sich zuletzt aber abnutzende Kurzpassspiel (Tiki-Taka) weiterentwickelt hat. Die Spanier haben immer noch am liebsten den Ball, nach dem Motto: Ballbesitz ist die beste Verteidigung. Doch die manchmal endlos erscheinenden und im Laufe der Jahre immer harmloser gewordenen Ballpassagen wurden durch zielstrebigere Kombinationen und Vorstöße der beiden schnellen Außenbahnspieler Williams – der 21-jährige Linksaußen von Athletic Bilbao wurde gegen Italien zum Man of the Match gekürt – und Yamal ergänzt.

Eine bedrohliche Mischung für jeden Gegner. So wurde die italienische Abwehr, immer noch eine der besten der Welt, ein ums andere Mal überrumpelt. Zurecht erklärte de la Fuente: „Das war wahrscheinlich das beste Spiel unter meiner Regie. Italien hat so schwach ausgesehen, weil wir so gut waren.“ Trotz des Rückstands kamen die Italiener erst in der 85. Minute zu ihrem ersten Eckball. Verantwortlich dafür auch Linksverteidiger Marc Cucurella. Er erklärte: „Wir haben eine Nachricht gesendet, dass Spanien immer da ist.“

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