Buch der Woche

Zuerst bemerkt er nur eine Sehschwäche: Helena Adlers Erzählungen aus dem Nachlass

Im Andenken an Helena Adler wurde jüngst der „Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur“ begründet.
Im Andenken an Helena Adler wurde jüngst der „Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur“ begründet.Eva trifft! Fotografie
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Einem Maurer wird eine tödliche Krankheit diagnostiziert, illegale Jauchegruben tun sich auf, und ein Dämonentanz wird aufgeführt. Das Buch „Miserere“ vereint drei nachgelassene Erzählungen voll Sprachfuror der im Jänner verstorbenen Autorin Helena Adler.

Die beiden längeren Texte dieses Bandes, die durch einen ganz kurzen dritten in der Mitte voneinander separiert werden, kommen mit einer ungeheuerlichen Vehemenz daher. Ganz so, als ob es hier um nichts Geringeres ginge als um Leben oder Tod. Das erste Textstück, man könnte es noch eine Erzählung nennen, heißt „Ein guter Lapp in Unterjoch“ und ist exakt 20 Druckseiten lang. Auf dieser schönen mittleren Distanz entwirft sich ein Bildnis des titelgebenden Mannes. Aber mit Erklärungen, was denn nun ein solch guter Lapp und wo ein Ort namens Unterjoch zu finden sei, hält sich Helena Adler nicht lange auf.

Die Farbe Weiß als Leitmotiv

Gleich im ersten Absatz erscheint ihr Titelheld in genormten Rahmungen: Das Haus, in dem Josef ein karges Mietzimmer hat, liegt auf einer Höhe von exakt 1600 Metern. Seine Matratze entspricht der Normgröße von 90 mal 200 Zentimetern. Und auch sein Körpermaß von 1,80 Metern passt. Exakt um 5.30 Uhr verlässt er das Bett. Die kalkweiße Wäsche darauf wird penibel gefaltet. Weiß ist überhaupt eine der leitmotivischen Farben im Text. Im Spiegel hinter dem Waschbecken wirft Josef ein Auge auf sich selbst. Aber nur kurz, denn die Baustelle „schreit“ schon nach ihm. Er ist Maurer und nimmt an sich seit einigen Tagen eine seltsame Sehschwäche wahr. Kopfschmerzen, Gleichgewichtsprobleme und Schwindelgefühle kommen hinzu. Kaum fünf Seiten braucht es, bis Josef bei einem Radioonkologen in eine gipsweiße Röhre geschoben wird. Wenig später steht auch schon die Diagnose fest: ein Gehirntumor, winzig zunächst. Noch besteht Hoffnung, dass eine Lasertherapie ihn zum Verschwinden bringt.

Während das Hirn ihm zusehends Streiche spielt, geht Josef, davon nach außen hin völlig unbeeindruckt, seinem Ehrenamt nach. Als Progoder oder Hochzeitslader hält er die Vorbereitungen zu dörflichen Hochzeitsfeierlichkeiten in der Hand und übernimmt dann die Rolle eines leitenden Unterhalters. Bei Helena Adler, für deren Schreiben die Bezugnahme auf die bildende Kunst konstitutiv ist, entwirft sich daraus schnell ein Bruegel’sches Wimmelbild. Allerdings sieht an ihm nichts nach einer rechten Idylle aus. Die Braut, sie heißt Maria, erscheint eher in ein Zwangsgeschirr geschnallt als in Graden von Freiwilligkeit anwesend. Die Machthaber des Dorfes, allen voran der Bürgermeister, haben sie eingespannt. Und unter diesem Joch findet sie nicht mehr heraus.

Brudercousins und knisternde Trachten

Auch in diesem Sinn erweist sich die Wahrheit des Ortsnamens. Denn es ist ein ewiges Jochen und Unterjochen in Unterjoch, und dann heißen hier auch noch die Leute so, mit Familiennamen Joch und mit Vornamen Jochen. Es ist ein wahrer Sprachfuror, mit dem die Autorin diese ganzen Gleichlautungen in Relation gebracht und zu einem einzigen Klumpen zusammengezurrt hat. „Zehn kleine Jägermeister“ kommen in dem Dorf auf eine einzige Cousine, die dann von ihren „Brudercousins“ auch sogleich „gerudelt“ wird. Anderswo „dirndeln“ ein paar Mädchen in ihren knisternden Trachten durch die Gegend, erleiden aber das gleiche Schicksal. Denn es ist das einzige, das es für sie im Dorf gibt.

Von Elfriede Jelinek könnte der Schluss der Erzählung sein: Da versinkt die ganze Hochzeitsgesellschaft in Blitzbeton, den der gute Lapp Josef in den Saal leitet. Und dann bricht auch noch der Estrich nach unten durch und vermischt sich mit der Jauche, die die Großbauern dort über Jahrzehnte hinweg illegalerweise eingebracht und abgelagert haben.

Einladung zum Bachmannpreis

Helena Adler ist am 5. Jänner 2024 in ihrem 41. Lebensjahr an den Folgen eines Gehirntumors gestorben. Den Text „Der gute Lapp von Unterjoch“ hatte sie mir schon im Herbst 2022 geschickt. Ich sollte ihn bezüglich einer geplanten Teilnahme am Bachmannpreis prüfen. Jetzt, als nachgelassene Erzählung, nimmt er noch einmal einen anderen und erschreckenden Sinn an.

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