Wort der Woche

Weder Land noch Meer

Ein Tipp für den Strandkorb: Der deutsche Ökologe Hansjörg Küster hat ein grandioses Buch über das Watt geschrieben – eine hochspannende und informative Reise in eine für uns völlig fremde Welt.

Die immer heißer werdenden Sommer verändern unser Urlaubsverhalten: Wie Reiseveranstalter berichten, zieht es viele nicht mehr gen Süden, sondern in den kühleren Norden. Etwa an die Nordseeküste. Wobei das Wort „Küste“ etwas irreführend ist: Die Grenze zwischen Meer und Land ist dort nämlich nicht scharf, sondern ein „sehr allmählicher Übergangsbereich“, wie es der deutsche Ökologe Hansjörg Küster (Uni Hannover) in seinem neuesten Buch „Das Watt. Wiege des Lebens“ (239 S., C.H.Beck, 27,50 €) formuliert. Beim Watt – genauer: beim Schlickwatt – handelt es sich um ausgedehnte Ebenen, die zweimal am Tag vom Meer überflutet werden und dann wieder trockenfallen. Das Watt ist weder dem Land noch dem Meer eindeutig zuzuordnen.

Für uns Binnenländer ist das völlig unbekanntes Terrain: „Ebbe und Flut sind keine Wasserstände, sondern Strömungen, die mehrere Stunden andauern“, erklärt Küster. Daher herrscht für Unkundige, die gedankenlos über das Watt spazieren, bisweilen echte Lebensgefahr – insbesondere wenn die „Priele“, in denen das Wasser bei Ebbe ins Meer zurückfließt, zu Wasserbahnen mit reißendem Sog werden.

Lesende aus alpinen Gefilden können in dem Buch sehr viel Neues lernen. Das beginnt schon beim Vokabular – ich zumindest hatte zuvor noch nie etwas von Gatt, Geest, Sietland, Groden, Warft, Fething, Wehle oder amphidromischen Punkten gehört. Küster erklärt all das knapp und gut, er gibt tiefe Einblicke in die Besonderheiten dieser Landschaft. Das Watt – wissenschaftlich als „Eulitoral“ bezeichnet – gilt als das produktivste Ökosystem der Welt: Die Algenrasen, die auf der Oberfläche des Schlicks wachsen und niemals völlig austrocknen, bilden durch Photosynthese gewaltige Mengen an Biomasse, die wiederum für unzählige andere Lebewesen eine üppige Nahrungsgrundlage sind – für Wattwürmer, Krebse, Muscheln, Garnelen, Fische, Vögel usw.

Bedingt durch Meeresströmungen, Stürme, Springfluten und Schwankungen des Meeresspiegels ist das Watt in stetigem Wandel begriffen. Es bilden sich z. B. laufend neue Sandwälle (Nehrungen), und es kommt vor, dass eine vom Meer abgetrennte Lagune (Haff) entsteht. Die Lebewesen sind dann plötzlich völlig anderen Selektionsbedingungen ausgesetzt – hier können neue Arten entstehen.

Der Mensch versucht seit Anbeginn der Besiedlung dieser unwirtlichen Landschaften, sich vor den Veränderungen, die sein Überleben gefährden, zu schützen – und hat sogar Methoden entwickelt, die Wandelbarkeit für sich zu nutzen. Durch den Bau von Deichen z. B. lässt sich aus dem Watt äußerst fruchtbares, weil perfekt Mineralstoff-versorgtes Ackerland gewinnen. Dies brachte den Bauern bisweilen großen Wohlstand ein. Dadurch ist zum Beispiel erklärbar, dass „in kaum einer anderen Region der Erde so viele Orgeln gebaut wurden wie rings um das Wattenmeer“, so Küster. Und dass der wohl wichtigste Orgelbaumeister aller Zeiten, Arp Schnitger, nicht etwa aus einer Kulturmetropole stammt, sondern aus der Peripherie des Watt.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist nun Wissenschaftskommunikator am AIT.

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