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Mut zur Unschärfe!

Es braucht gar keinen überteuerten Aperol Spritz, um den Donaukanal so lieblich verschwommen zu sehen.
Es braucht gar keinen überteuerten Aperol Spritz, um den Donaukanal so lieblich verschwommen zu sehen.Clemens Fabry / Bearbeitung: kanu
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Die Welt sieht so jung und weich und schön aus, wenn man nur die Brille vergisst.

Was für ein schönes Wort, freute sich neulich ein Kollege, als ich ihm erklärte, warum ich mich in der Redaktionskonferenz ganz weit weg von ihm und ganz nah zur Leinwand setzte. Ich bin nämlich brillenfaul. Das bedeutet: Ich „brauche“ eine Brille, trage sie aber ungern. Wobei: Was heißt schon brauchen? Mut zur Unschärfe, lautet das Motto! Man muss sich frei machen von den gesellschaftlichen Zwängen, die einem einreden, es sei die einzige richtige Lebensform, die Getränketafel an der Rückwand des Kaffeehauses entziffern und seinen eigenen Ehemann aus fünfzehn Metern Entfernung identifizieren zu können. Muss man denn immer alles sehen? Ist die Welt durch den Weichzeichner der eigenen Kurzsichtigkeit betrachtet nicht auch schön?

Keine Sorge, für relevante Momente (Autofahren, Kino etc.) setze ich das ungeliebte Gestell schon auf, aber es hat durchaus seinen Reiz, sich bewusst dafür entscheiden zu können, den lauten Anblick der Kanten und Strukturen und Buchstaben und Ziffern und Gesichter ein bisschen herunterdrehen zu können. Zum Beispiel abends am Wiener Donaukanal: Wie wunderschön verschmelzen hier die Menschen und Fassaden und der rosa Himmel, wie weich und jung wirkt alles! Keine grantigen Mienen, keine schreienden Werbetafeln. Die ganze Welt ein impressionistisches Gemälde – dafür brauche ich gar keinen überteuerten Aperol Spritz (was, das war ein Achter und kein Fünfer auf der Karte?), dafür reicht es schon, die Brille vergessen zu haben. Schon verschwinden die Imperfektionen der Stadt. War das gerade eine Katze oder eine Ratte? Schatz, was meinst du? Oh, entschuldige, du bist ja gar nicht mein Ehemann.

Gar nicht brillenfaul bin ich übrigens, was meine Sonnenbrille angeht. Die sieht aber auch besser aus. Sollten Sie mich also nachts an einer Theke mit schwarzen „Shades“ antreffen, hat das bestimmt ästhetische Gründe. Und liegt sicher nicht daran, dass ich eine optische Sonnenbrille habe …

E-Mails an: katrin.nussmayr@diepresse.com

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