Gastkommentar

Wie Orbán die Ungarn blendet

Seit der Wende 1990 sind Ungarns Regierungen davon besessen, mit Österreich gleichziehen zu müssen.

Kann man Orbáns Prophezeiung aus 2017 wirklich ernst nehmen, nach der sein Land Österreich bis 2030 einholen werde? Ein Jahr später verkündete er gar, sein Ziel sei es, dass Ungarn bis 2030 zu den fünf Ländern der EU gehöre, in denen es sich bestens leben und arbeiten lässt. Für den Beweis verbleiben ihm nur noch sechs Jahre. Es bietet sich ein kleiner Faktencheck an.

Die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns, gemessen am Pro-Kopf-Nationaleinkommen (BIP) des Landes (23.319 US-$), beträgt mit 56 Prozent etwas mehr als die Hälfte des Durchschnitts in der EU, liegt aber etwa 50 Prozent über dem Durchschnitt von 200 Ländern. Damit belegt Ungarn weltweit den 57. Platz. Ein europäischer Standard ist das nicht, da es in Europa 50 Länder gibt. Österreich dagegen gehört mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 60.000 US-Dollar (2024), zur Weltspitze.

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Die Hälfte der ungarischen Wirtschaft befindet sich in ausländischem Besitz. Dies liegt daran, dass mehr als ein Fünftel der Produktion des verarbeitenden Gewerbes aus dem Hightech-Bereich stammt. Mehr als 80 % des ungarischen Exports gehen in die viel gescholtene EU, aus der umgekehrt drei Viertel der Importe kommen. Ungarns Wirtschaft atmet durch die Nabelschnur der Union.

In Österreich beträgt der Mindestlohn monatlich 1500 Euro, der Stundenlohn 24 Euro. Dies entspricht im Wesentlichen dem deutschen und französischen Lohnniveau. Per Dekret hat die ungarische Regierung den monatlichen Mindestlohn ab 1. Jänner 2022 auf 200.000 HUF (512 Euro) festgelegt, das ist ein Drittel des österreichischen Mindestlohns. Und: Der durchschnittliche ungarische Arbeiter verdient nicht nur viel weniger, er arbeitet auch mehr als seine österreichischen Kollegen. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten lag im Jahr 2022 in Ungarn bei etwa 40 Stunden, in der EU bei 37,5 Stunden und in Österreich bei 36 Stunden. Eine ähnliche Streuung ist bei den Pensionen zu beobachten. Die durchschnittliche Pension beträgt in Ungarn 415 Euro und in Österreich 1480 Euro.

Auch das Wohneigentum sollte erwähnt werden, dabei sind die entsprechenden Daten auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Laut einer Umfrage von Eurostat Housing Europe 2024 wohnen 90 % der ungarischen Bevölkerung in der eigenen Immobilie. Der entsprechende EU-Durchschnitt liegt nur bei 69 Prozent. Im reichen Dänemark, Österreich und Deutschland sind es sogar nur rund 60 Prozent.

Rückstand nicht aufholbar

Die Erklärung dazu: Bis in die 1970er-Jahre besaß der ungarische Staat fast alle Immobilien in den Städten. Da man immer weniger in der Lage war, diese instand zu halten bzw. zu renovieren, wollte man sie loswerden. Die Mieter, wollten sie weiter in der bisher bewohnten Wohnung bleiben, mussten ihre Wohnung nunmehr günstig vom Staat erwerben. Die Mieten der übrig gebliebenen Wohnungen stiegen deshalb drastisch an. Eine Wohnung zu mieten kam damit für die meisten Ungarn immer weniger infrage. Der erzwungene Eigenheimkauf schränkte den allgemeinen Konsum zusätzlich ein.

Man muss kein Ökonom sein, um zu verstehen, dass es für Ungarn unmöglich ist, den fast durchwegs dreifachen Rückstand zu Österreich in sechs Jahren auch nur annähernd aufzuholen, geschweige denn zu überholen. Hier geht es um bewusste Irreführung, mit der Orbán die eigene Bevölkerung blendet. 

Berend T. Iván ist ungarischer Historiker und Experte für europäische Wirtschaftsgeschichte. Seit 1990 Professor an der UCLA.

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