Gastkommentar

Bericht aus der Volksschulzeit: „Es liegt nie an den Kindern“

Wir wurden gewarnt, unsere jüngste Tochter in die öffentliche Volksschule ums Eck zu schicken. Wir haben es nicht bereut.

Im Herbst 2019 haben wir uns am „Tag der Wiener Schulen“ für unsere jüngste Tochter für eine öffentliche Volksschule ums Eck in Ottakring entschieden: und zwar für die eine Volksschule, vor der wir von vielen gewarnt wurden. In der „Presse“ habe ich damals darüber geschrieben. Die auf den Artikel folgenden Reaktionen und Diskussionen waren enorm. Sie reichten von „Wow, wie mutig!“ bis zu „Wie können Sie das Ihrem Kind nur antun, es tut mir jetzt schon leid.“

Nun hat unsere Tochter ihren letzten Schultag in dieser Volksschule erlebt. Es gab viele Abschiedstränen, weil die Lehrerinnen etwas eingelöst haben, was von Anfang an spürbar war: eine große Liebe, Geduld und Großzügigkeit mit jedem einzelnen Kind. Offene Ohren für jedes größere und kleinere Problem. Die Lehrerinnen haben den Kindern in vier Jahren nicht nur das Einmaleins der Mathematik, sondern auch das Einmaleins der Herzensbildung beigebracht. Sofort war spürbar, hier werden die Kinder genommen, wie und wer sie sind, egal welche Geschichte sie mitbringen.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Der Start war hart für alle. Die 1. Klasse hat im Jahr der ersten Corona-Lockdowns begonnen. Während Corona gab es regelmäßige Anrufe der Lehrerinnen. „Ist M. daheim? Wir würden gerne mit ihr reden.“ M. ist dann mit dem Telefon im Zimmer verschwunden. Was sie geredet haben, weiß ich nicht, aber eines weiß ich sicher: Diese Anrufe haben die Kinder mehr bestärkt, als es Hunderte Hausaufgaben per WhatsApp hätten machen können.

Was es vier Jahre lang gab: eine Musikstunde pro Tag. Mit Superar, einem sozial-innovativen Schulprojekt, das dafür sorgt, dass Kinder in Schulen mit großen Herausforderungen über das Singen und die Musik zusammenfinden. Mit Liedern in allen Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler. Diese Klassen haben auch während der Pandemie stattgefunden, im Freien, auf dem Dach der Schule.

Was es vier Jahre lang gab: einen Schulwart und eine Direktorin, die jedes Kind in der Früh persönlich mit einem Schmäh und einem lieben Wort begrüßt haben. Es gab einen Hort, der, obwohl im System getrennt, in den Beziehungen mit den Kindern nahtlos an die Schule angeschlossen hat. Es gab Erwachsene an der Schule, die nicht nur mit allen Kindern, sondern auch miteinander intensiv verbunden waren, die die Kinder beim Namen ansprechen, miteinander lachen, aber auch notwendige Konflikte ausgetragen haben.

Auch die Direktorin dieser Schule hat ihr Versprechen eingehalten: „Kein Kind darf sich langweilen und etwas nicht lernen dürfen, was es lernen möchte.“ Die Kinder haben über den Schulstoff hinaus noch Entscheidendes gelernt: dass es Kinder gibt, die jeden Tag das gleiche Gewand tragen, und was eine gute Klassengemeinschaft dann tut. Dass es Kinder gibt, die in den ersten Wochen einfach gar nicht sprechen, weil es keine Sprache gibt für das, was sie erlebt haben – auf der Flucht oder auch daheim. Dass es Kinder gibt, die ernsthaft erkrankt sind und nicht überall mitmachen können. Und wie man die Projekttage dann so gestaltet, dass sie für alle Kinder passen.

Nur vier ins Gymnasium

Am Ende bleiben neben einer großen Dankbarkeit aber auch Fragen: Vom ersten Tag an war klar, wer von den Kindern den Sprung ins Gymnasium schaffen würde. Es sind vier Kinder einer ganzen Klasse. Und zwar die Kinder jener Eltern, die schon Bildungskarrieren hinter sich haben. Wir schreiben dieses Muster der himmelschreienden Bildungsungerechtigkeit in unserem System einfach weiter fort.

Es bleibt ein großes Unverständnis darüber, dass die große Durchmischung und das Erleben von Gemeinschaft im Hort nur für die möglich war, deren Eltern beide arbeiten gehen. Dabei ist es für alle Kinder wichtig, am Nachmittag gemeinsam Hausübung zu machen, zu spielen und in einer gemeinsamen Sprache zu sprechen.

Es bleibt eine große Fassungslosigkeit darüber, dass diese Volksschule seit sieben Jahren auf eine Schulsozialarbeiterin wartet und bis jetzt keine zugeteilt bekommen hat.

 „Es liegt niemals an den Kindern“, hat die Direktorin damals gesagt. Nein, es liegt niemals an den Kindern, es liegt an einem ungerechten Bildungssystem, das zulässt, dass sich für manche Kinder einige Türen der Bildungswelt bereits mit zehn Jahren schließen. Es liegt an mangelnden Ressourcen, um Eltern dabei zu helfen, eine Bildungsperspektive für ihre Kinder zu entwickeln, die sie vielleicht selbst nicht gehabt haben.

Die eine große Frage

Es bleibt die eine große Frage, die ich mir vom ersten Tag an gestellt habe: Wie kann es sein, dass in die eine Schule die „Ausländerkinder“ und in die andere Schule die „Bobokinder“ gehen? Wie kann es sein, dass wir es zulassen, dass beide Schulen die wirkliche Durchmischung der Bevölkerung im Grätzel null abbilden?

Was ich mir wünsche: dass wir endlich Schluss machen mit dieser enormen Bildungsungerechtigkeit. Dass wir die Schulen besser durchmischen. Dass alle Kinder in den Hort gehen können, um dort gemeinsam zu spielen und zu lernen. Dass Schulen mit sozialen Herausforderungen entsprechendes Personal bekommen.

Was ich mir für diese einzig- und großartige Schule in Ottakring wünsche: dass möglichst viele Kinder in den Genuss kommen, solche Lehrerinnen zu haben. Lehrerinnen, die innerhalb der Grenzen dieses ungerechten Systems die Kinder betreuen und lieben, wie sie sind.

Judith Pühringer (*1976) ist seit 2021 Parteivorsitzende der Wiener Grünen und n.a. Stadträtin. Sie ist Mutter von zwei Töchtern. Sie selbst ist in Wien in eine katholische Privatschule gegangen.

Reaktionen an: debatte@diepresse.com

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.