Gastkommentar

Demografie, die Zukunft Europas

Die Demografie verändert die Gesellschaft und setzt Wirtschaft und Sozialsysteme unter Druck. Die EU muss darauf reagieren.

Es waren einmal die Siedlungen A und E mit je vier Paaren. Die Paare in A hatten je fünf Kinder, die Paare in E je ein Kind. In der zweiten Generation lebten in A 20 Menschen, in E vier, in der dritten in A 50, in E zwei, in der vierten Generation gab es in A 125 Menschen, in E nur mehr einen.

Das Beispiel zeigt die Macht der Demografie. Siedlung E steht vereinfacht für Europa. Zwei Kinder, um die Eltern zu ersetzen, gibt es seit 1975 nicht mehr. Zuletzt ist die Fertilität auf 1,46 Kinder gesunken. Bis zum Jahr 2100 wird die Bevölkerung der EU-27 von 447 Millionen auf 419 Millionen Menschen schrumpfen. Dass es nicht so weit kommt wie in Siedlung E, liegt an der steigenden Lebenserwartung, der massiven Zuwanderung sowie der höheren Geburtenraten bei Migrantinnen.

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Der Anteil der EU-27 an der Weltbevölkerung fiel seit 1960 von 11,7 auf 5,6 Prozent und soll bis 2100 auf vier Prozent sinken. Dagegen stieg der Anteil Afrikas (für das Siedlung A steht) seit 1960 von 8,5 auf derzeit 18,5 Prozent und soll bis 2100 auf 40,4 Prozent steigen. In ganz Europa verschieben sich daher die Altersgruppen: Auf eine Person im Pensionsalter (65 plus) kommen derzeit drei im Haupterwerbsalter, 2040 werden es 2,2 sein, 2100 1,7. Der Trend ist nicht einheitlich: Die Fertilität ist in Frankreich (1,84) weit höher als in Spanien, Italien und Österreich (1,29 bis 1,32). Abwanderung verschärft die Lage in Ostmittel- und Südeuropa, während Zuwanderung sie in Mittel-, West- und Nordeuropa entschärft.

Das Gewicht der EU nimmt ab

Die Folgen der Demografie reichen weit: Das Gewicht der EU in der Welt nimmt ab. Die Wirtschaft wächst kaum noch, weil gleichzeitig die Zahl der Erwerbspersonen und die Arbeitszeit zurückgehen und die Produktivität trotz Digitalisierung und KI zuletzt kaum stieg. Hingegen steigen die Staatsschulden, die künftig von weniger Menschen getragen werden müssen.

Pensions-, Gesundheits- und Pflegesysteme kommen europaweit doppelt unter Druck: Der Rückgang der Erwerbspersonen schwächt das finanzielle Fundament, während die Lasten darauf, Pensionen und Pflegebedarf, steigen. Und wenn immer weniger Menschen Kinder, Geschwister, Cousins, Tanten etc. haben, fehlt das familiäre Netzwerk, sodass man inzwischen vom Staat sogar erwartet, die Einsamkeit zu bekämpfen.

Die EU-Institutionen haben das Problem erkannt und empfehlen bekannte Maßnahmen, für die allerdings weniger die EU als ihre Mitglieder zuständig sind: Familien sollten finanziell und durch bessere Kinderbetreuung gefördert werden. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Potenziale stärker zu nützen. Arbeit soll sich lohnen und daher steuerlich entlastet werden.

Für die Nachhaltigkeit des Pensionssystems sind niedrigere Pensionen und (noch) höhere Beiträge keine Option. Da die Europäerinnen und Europäer an gesunden Lebensjahren gewinnen, sollte ein Teil des Zugewinns das Erwerbsleben verlängern. Daher haben viele EU-Staaten das Pensionsantrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt.

Das eigene Potenzial reicht aber nicht: Schlussendlich müssen die EU und ihre Mitglieder im weltweiten Wettbewerb um Talente aktiver werden und zusammenarbeiten. Der aktuelle Trend gefährdet die Nachhaltigkeit in der EU. Entsprechend einer Empfehlung der Europäischen Kommission sollte die Demografie in alle EU-Politikbereiche einfließen. Denn sie entscheidet die Zukunft Europas.

Rolf Gleißner ist Leiter der Abteilung für Sozial- und Gesundheitspolitik in der Wirtschaftskammer Österreich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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