Analyse

Rivalisierende Syrer und Tschetschenen in Wien: „Sie haben niemanden, den sie verlieren können“

Die Cobra bei einem Pressetermin bei der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau, einem der Hotspots.
Die Cobra bei einem Pressetermin bei der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau, einem der Hotspots.Barbara Aichinger
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Wien hat ein veritables Problem mit vor allem syrischen und tschetschenischen Jugendbanden, die sich mit Messern, Waffen und Fäusten öffentlich bekriegen. Woher kommt der Hass und was tut die Polizei? Eine Spurensuche mit den Ermittlern vor Ort.

Es ist Mittwoch, neun Uhr am Abend, und die Polizei zeigt fast alles, was sie hat: Beamte der Cobra stehen in ihrer tarnfarbenen Montur vor ihrem Einsatzauto neben der U6-Station Jägerstraße. Daneben hat ein Polizist der Hundestaffel seinen offensichtlich einsatzbereiten Hund tänzelnd an der Leine. Mehrere Beamte in Uniform stehen in einem Grüppchen nebeneinander und ja, auch Beamte in Zivil sind da. Vorher waren sie alle im Einsatz, jetzt stehen sie gezwungenermaßen hier, um sich von einem riesigen Pulk an Journalisten fotografieren zu lassen.

Man kann ihnen die Show nicht verübeln. Es ist Wahlkampf, und seit dem vergangenen Wochenende sind genügend Menschen in Wien in Aufregung, weil es durchaus brutale Auseinandersetzungen zwischen vorwiegend Tschetschenen, Türken und Syrern gegeben hat, die sich unter dem Namen 505 oder 505/515 zusammenfinden. Schüsse, mehrere Messerstiche, schwere Verletzungen und täglich Hunderte Hasspostings auf Telegram-Kanälen lassen erahnen, dass hier ein Pulverfass kurz vor der Explosion steht, wenn es nicht entleert wird.

Problem nicht erst seit gestern in Wien

Auch aus diesem Grund steht Oberst Dietmar Berger vor den Kameras und Mikros Rede und Antwort. Berger ist stellvertretender Leiter des Ermittlungsdienstes im Landeskriminalamt Wien – und damit in diesem Fall oberster Bandenermittler. Er stellt klar: Das Phänomen der (Jugend-)Banden gibt es nicht erst seit gestern in Wien. Auch wenn die Situation am Wochenende definitiv „eskaliert“ sei.

Warum? Im Nachhinein betrachtet habe es schon das ganze Jahr über Vorfälle gegeben, sagt Berger. Ein Hauptgrund für die aktuellen Vorfälle dürfte ein Streit am 3. Juni im Arthaberpark in Favoriten gewesen sein, bei dem ein 30-jähriger Österreicher mit tschetschenischen Wurzeln durch einen syrischen Staatsangehörigen schwer verletzt wurde. Die Ironie an der Sache: Eigentlich hätte es sich um eine Aussprache von vorangegangenen Streitigkeiten handeln sollen. Doch die ging offenbar gewaltig schief. Der Mann überlebte schwer verletzt – mit acht Messerstichen. Einer davon in den Hals, andere in die Genitalien. Aus der Sicht der Tschetschenen heiße es jetzt: „Das ist zu viel. Wir müssen uns wehren.“

Dietmar Berger im Interview mit der „Presse“.
Dietmar Berger im Interview mit der „Presse“.Die Presse/Barbara Aichinger

Und sie wehren sich. Feind ist die syrische Bande 505, die seit Monaten aus Sicht der Tschetschenen Jagd auf diese (und Türken) macht. Man dürfe sich aber diese Bande nicht wie einen Clan vorstellen, mit einem Capo an der Spitze, erklärt Berger. Es sei ein loser Zusammenschluss an jungen Männern, die damit sympathisieren. Die Zahl 505 ist eigentlich eine Postleitzahl aus Saudiarabien, und zurückzuführen sei der Bandenname auf einen syrischen Familienclan, der sich auf diese Region bezieht. Nur: „Die sind bei uns absolut nicht auffällig. Die Jugendlichen haben das einfach übernommen. Die Zahl ist ein Selbstläufer geworden.“

Es geht nicht um Drogen, es geht um Ehre

Einer, der schwer zu fassen ist. Um Suchtmittelkriminalität gehe es nach derzeitigem Wissensstand nämlich nicht. Auch nicht um mafiöse Strukturen oder „Clan-Kriminalität, wie wir sie aus Deutschland kennen“. Es geht um viel weniger und gleichzeitig viel mehr. „Es geht um die Ehre“, sagt Berger. Um die Vorherrschaft in Parks.

Und so etwas lässt auch einen auf den ersten Blick gut integrierten Menschen offenbar alles vergessen. Bei der ersten Festnahme handelt es sich um einen 29-jährigen Tschetschenen. Er soll mit einem Pkw mehrere Verdächtige am Freitagabend zur ersten Kampfhandlung im Anton-Kummerer-Park in der Brigittenau gebracht haben. Er verweigere jede Aussage, sagt Berger. Und: „Diese Person ist beruflich voll integriert. Sie passt nicht in unser Bild, das wir uns von herummarschierenden Jugendlichen machen.“

Afghane? Syrer? „Für sie sind das nur Araber“

Auch die am Sonntag offenbar schwer verletzten Afghanen – einer davon liegt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus – passen vielleicht nicht ganz ins Bild. Die Opfer erzählen, sie seien von Vermummten angesprochen und sofort attackiert worden. Berger erklärt das so: „Die Tschetschenen sehen offensichtlich die Ethnie nicht so eng. Für sie sind das nur Araber.“

Die Polizei ist jetzt jedenfalls verstärkt mit Streifen unterwegs, hat Sondereinsatzkräfte wie die Wega oder die Cobra bei Schwerpunktaktionen dabei. An jenem Mittwochabend habe man – wenn auch nicht vor den Augen der Journalisten – 453 Identitätsfeststellungen und 38 Anzeigen (davon unter anderem schwere Nötigung) gemacht. Auch zwei Waffen wurden sichergestellt. „Es wird in Österreich keine Zonen geben, wo man sich nicht mehr hin traut, das werden wir zu verhindern wissen“, sagt Berger.

Die Polizei bei einem Pressetermin bei der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau, einem der Hotspots.
Die Polizei bei einem Pressetermin bei der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau, einem der Hotspots.Barbara Aichinger

Eine Generation kennt nur den Krieg

Für den Abend ist die Arbeit getan. Trotzdem bleiben viele Fragen offen: Warum jetzt? Warum auf einmal Tschetschenen und Türken gegen Syrer und Afghanen und umgekehrt? Ethnische Gruppen, die sich seit Jahren in Österreich befinden? Die Polizei sagt, sie befinde sich auf „Ursachenforschung“. Für den Moment bleiben Thesen. Und statistische Daten.

Viele junge Syrer, die seit einiger Zeit ins Land kommen, gehören einer Generation an, die seit Kindheitstagen nichts anderes kennt als Krieg. Die heute 20-Jährigen sind oft in (türkischen) Flüchtlingslagern groß geworden und haben nie oder kaum eine Schule besucht. Das belegen auch Zahlen des Österreichischen Integrationsfonds, der seit geraumer Zeit betont, dass zwei Drittel aller Personen, die 2023 Asyl oder subsidiären Schutz bekamen, nicht lesen und schreiben konnten. Ein Drittel davon konnte es auch in der eigenen Muttersprache nicht.

„Sie haben niemanden, den sie verlieren können“

Dass diese – vor allem junge – Menschen kommen, beunruhigt auch die bereits in Österreich etablierten Syrer selbst, wie aus den Communitys zu hören ist. „Früher habe ich Syrer nie Drogen verkaufen gesehen, jetzt schon“, sagte ein Mann, der seit 2015 im Land ist, unlängst zur „Presse“. Hinzu kommt, dass Syrern mittlerweile anstatt Asyl „nur“ noch subsidiärer Schutz zugesprochen wird. Damit dauern erstens die Verfahren länger, zweitens gibt es dadurch für sie für längere Zeit keinen Familiennachzug.

Nicht umsonst ist immer wieder zu hören, dass die Tschetschenen ein Problem hätten, weil Syrer tschetschenische Mädchen anflirten – wenn sie diese nicht sogar verfolgen würden. „Das Problem bei den Syrern ist, sie kommen ohne jemanden. Frauen und Kinder lassen sie dort. Hier haben sie niemanden, den sie verlieren können. Dann kommen sie mit Machete und so“, wird ein Türke später an dem Abend noch zur „Presse“ sagen.

TikTok und Telegram schaukeln alles hoch

Hierzulande treffen diese jungen Männer dann auf Tschetschenen, die bis heute zu den schlecht integrierten Bevölkerungsgruppen im Land zählen. Dafür ist es eine Gruppe mit riesigem Ehrgefühl, hoher Gewaltbereitschaft und noch größerem Zusammenhalt. Aufgeheizt wird alles durch Social Media wie TikTok und Telegram, wo Nachrichten aus den Herkunftsländern – etwa die Vergewaltigung eines türkischen Mädchens in der Türkei durch Syrer – das Potenzial haben, die Straßen hochgehen zu lassen. Ganz egal, ob diese Nachrichten nun stimmen oder nicht.

„Ich habe jetzt gehört, dass die Mutter eines Tschetschenen abgestochen wurde. Von Syrern“, sagt ein 21-jähriger Türke, der sich Gorilla nennt und der an jenem Abend nach dem offiziellen Termin neben der Polizei im Park hinter der U6-Station Jägerstraße in der Brigittenau (einem der Hotspots) gemeinsam mit zwei Freunden sitzt. Er und seine Freunde hätten keine Angst, immerhin seien alle drei Mixed-Martial-Arts-Fighter, erzählt er in schlechtem Deutsch. Überprüfen lassen sich ihre Aussagen nicht. Die Probleme kennen sie jedenfalls. „Man hört jedes Jahr etwas: Tschetschenen-Gruppenkampf, Messestecherei, Afghanen gegen Tschetschenen, Syrer, aber das ist alles Politik. Das darf man nicht in dieser Stadt machen.“

„Die sollen einfach still und ruhig sein“

Die Situation sei definitiv schlimmer geworden. Seit der Pandemie vielleicht, aber so ganz genau lasse sich das nicht sagen. Aber auch sie fühlen sich provoziert. „Wer bist du, dass du hier herkommst und mit Waffen schießt. Die sollen einfach still sein und ruhig sein“, sagt Gorilla. Wieder werden angebliche regelmäßige Vergewaltigungen in der Türkei erwähnt. „Dann sollten die Syrer so was nicht machen“, wirft ein anderer der drei Freunde ein.

Auch das Fußballmatch am Hauptbahnhof: Reine Provokation! „Die Frage ist: Wenn Österreich gegen die Türkei spielt, was haben Syrer und Kurden dort verloren?“ Na ja, die Syrer haben Österreich unterstützt, was bei den Türken hier nicht der Fall war, antwortet man ihnen. „Die Presse“ war an jenem Tag vor Ort, als nach dem Spiel türkische Fans und offenbar syrische und irakische Kurden beim Hauptbahnhof aneinandergeraten sind. Ja, erwidert einer, aber wenn danach einer dieser syrischen Fans den Namen von kurdischen Terroristenführern schreie, „dann ist das eine Provokation“. Es sei ein bisschen so, als ob jemand „Hitler“ rufen würde.

Der Feind ist der Gleiche

Wobei die Türken und die Tschetschenen schon getrennt agieren würden. „Nur der Feind ist der Gleiche.“ Das ist auf diversen öffentlichen Telegramgruppen auch nicht zu übersehen. Dort wird fast im Minutentakt zur Gewalt gegen 505-Mitglieder aufgerufen. In schlechtem Migrantendeutsch. Wie man diese denn erkenne, fragt einer. Aber eine Antwort bekommt er trotz zahlreicher Postings nichts. Dass die syrische Sicht der Dinge in der ganzen Causa derzeit weniger zu Wort kommt, liegt vielleicht auch daran, dass große, öffentlich bekannte Telegramgruppen auf Deutsch fehlen, die jeder kennt.

Angeblich gibt es jetzt Friedensverhandlungen zwischen den Älteren der Gruppierungen. Das wisse man, sagt Dietmar Berger vom Landeskriminalamt Wien auf die entsprechende Frage eines Journalisten. Und das sei gut, werde aber die Arbeit nicht beeinflussen. „Für Frieden“, sagt er, „sorgt die Polizei in Wien.“

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