Auf der Azoreninsel Flores, dem westlichsten Punkt Europas, können ein Ukrainer und ein Russe noch Freunde sein. Man trinkt indische Cocktails und verarztet seine Wunden.
Einer der letzten Sehnsuchtsorte, die mir in Europa noch übrig geblieben sind, ist die bereits auf der nordamerikanischen Kontinentalplatte gelegene, sonst aber europäische Azoreninsel Flores. Das saftiggrüne Eiland liegt 1945 Kilometer östlich von Amerika (Kap Race, Neufundland) und 1873 Kilometer westlich vom europäischen Festland (Cabo da Roca, Portugal), also mitten im Atlantik.
Flores hat nur 157 Quadratkilometer, Google Maps veranschlagte für die Wanderung vom am Ostufer gelegenen Flughafen ins westlichste Dorf Europas 5 Stunden und 25 Minuten, es hatte stabil 21 bis 23 Grad, das Klima ist zwar deutlich regenreicher als im 590 Kilometer entfernten Osten der Azoren, laut Touri-Info sollte das Wetter aber halten.
Nach einer Dreiviertelstunde auf stark befahrenen Serpentinen begriff ich die Formulierung, Flores mute „in Tieflagen fast schon feucht-tropisch an“. Ich hielt durchschwitzt den Daumen hoch, kein Auto hielt. Plötzlich wow, der letzte Freitagsbus – am Wochenende fahren gar keine Busse. Der Fahrer nahm mich im Nirgendwo auf und zog mir sogar die zu Fuß bewältigten Meter centgenau vom Fahrpreis ab. Durch grüne, einspurige, hortensienbewachsene Hohlgassen und atemberaubende Steilküste-Wasserfall-Panoramen brachte er mich in den entleerten Westen der 3800-Seelen-Insel.
Zwei Inder rühren von neun Uhr morgens bis ein Uhr nachts entschärfte Speisen und Cocktails an
Endstation Fajã Grande, ausgesprochen „Fazhagránd“, knapp mehr als 200 Einwohner, Liebe auf den ersten Blick. Ein offener Hof, in dem zwei junge Inder von neun Uhr morgens bis ein Uhr nachts entschärfte Speisen und Cocktails anrühren. Ein duftendes Vintage-Hostel, über dessen Holzplanken barfüßig eine blonde Amerikanerin lief. Sie war als Kind pensionierter US-Aussteiger über die Weltmeere segelnd aufgewachsen und hatte sich schließlich – wenn das keine Referenz ist! – für die Sesshaftigkeit in Fajã Grande entschieden.