Wort der Woche

In den Fluten versunken

Deutsche Forschende konnten nun mithilfe geophysikalischer Messmethoden die Überreste der untergegangenen Stadt Rungholt orten und näher untersuchen – inklusive einer stattlichen Kirche.

In der Vorwoche wurde an dieser Stelle das Watt als einzigartiger Lebensraum thematisiert. In einer beinah unheimlichen Simultaneität veröffentlichten deutsche Forschende eine Studie über den wohl berühmtesten Ort des Wattenmeeres, Rungholt. Diese sagenumwobene Stadt, einst Zentralort von Edomsharde, wurde 1362 in einer Sturmflut („Grote Mandränke“) vollständig zerstört. Der Untergang Rungholts gilt als ein Ursprung der Mythen um Atlantis.

Immer wieder sichtete man rund um die heutige Hallig Südfall (zwischen den nordfriesischen Inseln Pellworm und Nordstrand) Überreste einer Siedlung, und immer wieder fand man alte Gegenstände. Doch man wusste nichts Genaueres über Ausdehnung und Struktur der Stadt – bis vor einigen Jahren Forschende der Universitäten Kiel und Mainz sowie Schleswiger Archäologen begannen, die Gegend systematisch mithilfe geophysikalischer Methoden zu untersuchen.

Bei den flächendeckenden Messungen mit magnetischer Gradiometrie, elektromagnetischer Induktion oder mariner Seismik zeichneten sich deutlich frühere Nutzungsspuren ab – etwa durch Gebäude (unter denen der Schlamm verdichtet ist), aber auch Dämme, Entwässerungsgräben, Drainagen oder Felder (deren Bodenstruktur durch jahrelange Bearbeitung verändert ist).

Schon vor zwei Jahren publizierten die Forschenden um Dennis Wilken erste Funde von Dämmen, Hafenanlagen und Schleusen (PlosOne, 4.4.2022). Nun folgte eine echte Sensation: An mehreren Stellen konnten sie ehemalige Häuser und Felder auf Warften (künstlich erhöhten Hügeln) nachweisen. Und die Überreste einer Kirche – keine kleine Dorfkapelle, sondern ein stattliches, 15 mal 40 Meter großen Gotteshaus mit runder Ostapsis und mächtigem Westturm (Scientific Reports, 6.7.)

Wie die Forschenden aus den Messdaten schließen, wurde Rungholt ab dem Jahr 1100 besiedelt und hatte 1000 bis 1300 Einwohner. Die Menschen veränderten die Landschaft grundlegend: Sie rangen dem Watt durch Eindeichung, Aufschüttungen, Entwässerung und Torfabbau trockenes Land und Ressourcen ab. Mit Viehzucht, Ackerbau (trockengelegtes Watt ist extrem fruchtbar) und Salz (das durch Verbrennen von salzigem Torf gewonnen wurde) kamen sie zu einigem Wohlstand. Überdies waren die Bewohner, wie Keramik- und Metallfunde verraten, in ein dichtes Handelsnetz eingebunden.

Und noch etwas konnten die Forschenden aus ihren Daten ableiten: Mit der Zeit untergruben die Rungholter durch ihre Aktivitäten – im wahrsten Sinn des Wortes – ihre Existenzgrundlage: Der genutzte und entwässerte Boden sank immer weiter ab, sodass schon nach gut 200 Jahren Siedlungstätigkeit eine Sturmflut dem Ort unwiederbringlich den Garaus machen konnte. Rungholt sei „ein Symbol und Mahnmal für alle Küstengebiete in der Nordseeregion, wo intensive Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt und die Übernutzung der natürlichen Ressourcen durch den Menschen dazu führen, dass diese durch Sturmfluten ertrinken“, so die Forschenden.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist nun Wissenschaftskommunikator am AIT.


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