Gastkommentar

Demokratie, welche Demokratie?

(c) Peter Kufner.
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Viele Menschen, vor allem jene, die sich von Trump Agitation angezogen fühlen, halten die Demokratie für ein korruptes System. Warum?

Hinweis: Dieser Text wurde vor dem versuchten Attentat auf Donald Trump vom 13. Juli 2024 geschrieben. Wir haben uns dennoch entschieden, ihn zu drucken, weil viele Argumente darin durch dieses Ereignis nicht grundlegend widerlegt werden.

Fast alle sind sich einig, dass die Chancen der Republikaner auf einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im November nach dem fürchterlichen Auftritt von US-Präsident Joe Biden bei der Debatte gegen Donald Trump gestiegen sind. Trump hat gelogen und gepoltert, aber das voller Elan. Biden lieferte zwar einige gute Argumente, wirkte aber in Ausführungen und Gesamtbild wie ein verwirrter alter Mann.

Am Ende werden seine guten Argumente wohl wenig zählen. Wie Frank Luntz, Urgestein in Sachen republikanischer Wahlpolitik, in der „New York Times“ schrieb, kommt es nicht auf „Fakten, Politik oder gar darauf an, ob Biden oder Trump überlegen war, sondern auf das Gefühl, das sie bei Wählerinnen und Wählern hervorrufen“. Es besteht kein Zweifel, dass sich die Wählerschaft der Demokraten nach diesem Fiasko schlecht fühlt.

Biden räumte ein, seinen Auftritt vermasselt zu haben, vertritt aber weiterhin die Auffassung, dass eine zweite Trump-Administration eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie in den Vereinigten Staaten darstellt. Eine liberale Demokratie kann ohne unabhängige Justiz, freie Presse und unparteiische Verwaltung nicht funktionieren. Biden glaubt an diese demokratischen Grundpfeiler. Trump hingegen plant, den öffentlichen Dienst mit Gefolgsleuten zu besetzen, will die Justiz und das Justizministerium als politisches Instrument gegen seine Feinde einsetzen, hasst die Presse und liebäugelt mit der Gewalt des Mobs.

Verraten von den Demokraten

Wenn also die von Trump ausgehende Bedrohung der Demokratie real ist, wovon ich ausgehe, dann würden jene Amerikaner, denen ihr Regierungssystem am Herzen liegt, wohl den tattrigen alten Demokraten einem autoritären Aufwiegler vorziehen. Selbst wenn Biden aus dem Wahlkampf aussteigt, bleibt die Gefahr einer ruinösen zweiten Trump-Administration so groß wie eh und je.

Viele Menschen, vor allem diejenigen, die sich von Trumps Demagogie angezogen fühlen, halten die amerikanische Demokratie womöglich ohnehin für verbraucht, für ein korruptes System, beherrscht von selbstsüchtigen Eliten, die nur vorgeben, sich um die einfachen Menschen zu kümmern. Derartige Gefühle sind unter den weißen Menschen mittleren Alters mit roten MAGA-Kappen, die Trumps Kundgebungen besuchen, weit verbreitet. Aber auch etliche schwarze Menschen und Latinos sowie unzufriedene Jungwähler vertreten eine ähnliche Sicht der Dinge. Sie fühlen sich von den Demokraten verraten, die ihre Versprechen nicht eingehalten haben.

Eine kürzlich unter Wählern in Swing States durchgeführte Umfrage deutet jedoch darauf hin, dass den Menschen in den USA die Demokratie sehr wohl am Herzen liegt: 61 Prozent halten die Bedrohung der Demokratie in den USA für ein äußerst wichtiges Thema. Erstaunlicherweise glauben 44 Prozent dieser Befragten, dass Trump besser mit diesen Bedrohungen umgehen würde, während 33 Prozent Biden mehr Vertrauen entgegenbringen.

Was heißt Demokratie für sie?

Das wirft die Frage auf, was die Menschen unter Demokratie verstehen. In einer gut funktionierenden liberalen Demokratie werden Politiker gewählt, die die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten. Die Sieger sind berechtigt, zu regieren, aber nicht, von oben herab zu diktieren. Das heißt, die politischen Entscheidungsträger haben auch das Wohl derjenigen zu berücksichtigen, die für die Verliererparteien gestimmt haben oder gar nicht zur Wahl gegangen sind, und sollten Interessenkonflikte durch Diskussionen und Kompromisse lösen. Biden ist ein Mann der alten Schule: Er glaubt immer noch an Verhandlungen und ist bereit, dem einen oder anderen auf die Schulter zu klopfen, ins Ohr zu flüstern und notfalls seine Überredungskünste einzusetzen, um irgendeine Art der Einigung zu erzielen.

Menschen mit einer anderen Vorstellung von Demokratie mag das wie die typische Arbeitsweise korrupter Eliten erscheinen. Sie haben das Gefühl, die Stimme des Volkes werde nicht gehört, die politischen Führer seien nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen oder Versprechen einzuhalten, und ein radikaler Wandel sei unmöglich. Was sie wollen, ist „direkte Demokratie“, im Rahmen derer ein starker Anführer, unbelastet von eigennützigen gewählten Kongressabgeordneten, für das Volk spricht.

Der Faschismus ist ein Beispiel für direkte Demokratie. „Dezisionismus“ – der Führer entscheidet – war der in Nazi-Deutschland und in Mussolinis Italien gebräuchliche Ausdruck. Das wurde als demokratisch angesehen, weil der Führer der direkte und einzige Vertreter des Volkes war. Er steht in einem sehr realen Sinne über dem Gesetz. Der deutsche Jurist Carl Schmitt, der diese Herrschaftsform rechtfertigte, schrieb über Hitler, dass der Führer „kraft seiner Führung als oberster Richter Recht schafft“.

Die Stimme des Volkes

Eine weitere Variante der direkten Demokratie war der Kommunismus, der sich als unbeugsamer Feind des Faschismus verstand. Die Partei und insbesondere ihr Anführer waren die Stimme des Volkes, des Proletariats. Sowohl Faschismus als auch Kommunismus wollten den politischen Konflikt nicht durch Verhandlungen, sondern durch die gewaltsame Durchsetzung eines monolithischen Staates beseitigen. Die Kommunisten forderten die Beseitigung der Klassenfeinde, damit nur noch das Proletariat übrig bleibt, während die Nazis die Schaffung einer „rassenreinen“ Gesellschaft anstrebten.

Die meisten US-amerikanischen Wähler, die Trump für den besten Verteidiger der Demokratie halten, sind keine Faschisten und schon gar keine Kommunisten. Allein der Gedanke daran ließe sie erschaudern. Doch haben sie mit ziemlicher Sicherheit eine feste Vorstellung davon, wie wahre Amerikaner zu sein haben: gottesfürchtig, fleißig und höchstwahrscheinlich weiß.

Und sie fürchten, dass diese gewöhnlichen Amerikaner von illegalen Einwanderern verdrängt werden und ihre Lebensweise durch neue, von Eliteuniversitäten ausgehende Ideen über Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Sexualität bedroht ist.

Trump schürt diese Ängste

Trump schürt diese Ängste und übertreibt diese Bedrohungen. Seine Behauptung, die US-Gerichte würden nicht nur ihn, sondern jeden rechtschaffenen Amerikaner angreifen, zeigt erschreckende Wirksamkeit. Da er als die wahre Stimme des Volkes wahrgenommen wird, gilt er als reinster Demokrat.

Aus diesem Grund kann es schon möglich sein, dass die liberale Demokratie weitere vier Jahre seiner Herrschaft nicht übersteht.

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Der Autor

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Ian Buruma (*1951 in Den Haag) ist ein anglo-niederländischer Journalist und Kommentator. Er studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Er war 2017 und 2018 Chefredakteur der „New York Review of Books“. Zuletzt ist von ihm das Buch „Spinoza: Freedom’s Messiah“ (Yale University Press, 2024) erschienen.

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