Nichts gegen Joyce!

In seinem "Joyce-Alphabet" führt Kurt Palm seine Joyce-Kenntnisse samt Sekundärliteratur vor, angereichert durch eine amüsante Assoziationsfreudigkeit.

Es trifft sich gut, dass kurz vor dem Jahrhundertdatum der Ankunft von James Joyce in Österreich zum ersten Mal in einem österreichischen Verlag ein Buch über Joyce erscheint: Kurt Palms unglücklich betitelter "Brechreiz eines Hottentotten - Ein James-Joyce-Alphabet von Aal bis Zahl".

Kurt Palm bringt für seine Intention, Joyce einem breiteren Lesepublikum näher zu bringen, eine stupende Belesenheit betreffend die Romane und Briefe von James Joyce und, was er nicht so gerne kundtut, auch die Sekundärliteratur über diesen Autor mit. Hinzu kommen eine Gabe zur ansprechenden Formulierung und ein instinktives Gespür für jene Textstellen, die vor allem bei den Zuhörern seiner Lesungen aus diesem Buch Aufmerksamkeit finden.

Der "Ulysses" brauchte gar nicht ungelesen in den Bibliotheken der bildungsbeflissenen Bürger herumzustehen, meint Kurt Palm und hat auch gleich ein scheinbar verblüffend einfaches Rezept zur Remedur anzubieten: Eine "Lektüre des ,Ulysses' wäre gar nicht so schwierig, würde man Joyce beim Wort nehmen und das Buch als Trivialroman lesen". Er hält sich dann aber kaum an diese Maxime. So beginnt er nicht mit dem A und O der Lektüre jedes Trivialromans, nämlich mit der Frage, wer sind die Personen und wo spielt die Handlung des Romans, sondern konfrontiert seine Leser gleich mit einer ziemlich anspruchsvollen Interpretation ausgerechnet von Stellen aus dem schwierigsten aller Joyce-Texte, dem Spätling "Finnegans Wake". Palm kann dabei seine Joyce-cum-Irland-Kenntnisse wie die der darauf bezüglichen Sekundärliteratur, angereichert durch eine manchmal recht amüsante Assoziationsfreudigkeit, vorführen.

Leser, die sich von dieser interpretatorischen Suada verführen lassen, werden ihm vermutlich auch auf den folgenden Seiten seines Buches willig folgen. Einige von ihnen mögen dann, von seiner leichten Feder geführt, ihren eigenen Weg zu Joyce finden. Ob aber die große Schar, die laufend von den Massenmedien zur Bewunderung eines neuen, meist amerikanischen Bestsellers aufgerufen wird, sich ohne konkretere Hilfestellungen zu einer durchgehenden Lektüre etwa des "Ulysses", von "Finnegans Wake" ganz zu schweigen, wird entschließen können, scheint höchst fraglich. Andere vor Palm haben sich auf diesem Pfad schon bemüht, ihre Leser bei der Stange zu halten, so etwa der englische Erfolgsautor Anthony Burgess ("A Clockwork Orange") mit "Joyce für Jedermann" (1994) oder Arno Schmidt, der Verfasser von "Zettels Traum".

Auf Grund meiner eigenen Erfahrung glaube ich aber, dass Einführungen in Joyce mit etwas biederem Charakter - und von denen gibt es im Englischen mindestens ein Dutzend - dabei erfolgreicher sind, Joyce willige Leser zuzutreiben als die genannten Autoren, Kurt Palm mit eingeschlossen. Dem anspruchsvolleren Leser steht in Deutsch ohnedies Wilhelm Fügers literaturwissenschaftlich fundierte und dennoch gut lesbare Einführung in Joyce zur Verfügung ("James Joyce. Epoche - Werk - Wirkung").

Palm zu lesen oder seinem Vortrag zuzuhören - darauf sind offensichtlich die einzelnen Kapitel seines Buches thematisch wie auch umfangmäßig und in der publikumswirksamen Dosierung von Zitat und Kommentar zugeschnitten - kann mitunter vergnüglich sein, wenn man seine Kommentare nicht allzu wörtlich und die Auswahl der Zitate nicht immer als repräsentativ für das Werk nimmt. So gelingen ihm auch jene Kapitel am besten, die etwa landeskundliche oder zeitgeschichtliche Fragen behandeln, wie zum Beispiel jene über Dublin, Irland, Parnell, Triest. Bei der Charakterisierung der Hauptfiguren wird sein Urteil aber doch von der Rücksichtnahme auf die auch intendierte Darbietungsform, den Vortrag, beeinträchtigt. (Die Alphabetisierung der Kapitelstichwörter bringt übrigens so gut wie nichts, es sei denn, sie soll ein postmodern aleatorisches Element beisteuern.) Molly Bloom figuriert im Roman am Schluss, rückt aber bei Palm, wohl nicht nur wegen der alphabetischen Anordnung (Bloom), sondern wegen ihres Rufes als "amoralisches Weib", ganz nach vorne. Sie ist ja ohne Zweifel von den drei Hauptcharakteren jene, die voyeuristisch empfängliche Leser am unmittelbarsten anzusprechen vermag. Die Frage, ob es sich bei ihrem inneren Monolog um reine Männerfantasie handelt, eine Ansicht, der auch Palm zuzuneigen scheint, oder um einen geglückten Einfühlungsversuch eines männlichen Autors in die weibliche Psyche, ist allerdings noch immer umstritten.

Schwerer wiegt dagegen die plakative Etikettierung von Joyces Lebenspartnerin und späterer Gattin, Nora Barnacle, mit der Kapitelüberschrift "Nora ist dumm". Dass sie nur die ersten Seiten des "Ulysses" gelesen hat, spricht eher für ihre frauliche Klugheit. Sie weiß, wo ihre Stärken liegen, nämlich in der ruhigen Hand und lebenspraktischen Standfestigkeit, mit der sie ihren erratischen Partner und Gatten durch die Fährnisse eines äußerst schwierigen, finanziell und physisch ständig bedrohten Lebens geleitet.

Es ist das Verdienst ihrer amerikanischen Biografin Brenda Maddox, diese Kenntnis von Noras Rolle im Leben von Joyce überzeugend vermittelt zu haben. Der beste Joyce-Kenner im deutschen Sprachraum, Fritz Senn in Zürich, lässt seine - nicht unkritische - Rezension der Nora-Biografie in folgendes Urteil münden: "Für Ausdauer, Mut, Toleranz, Humor hat Nora ein Monument verdient - die Frau dahinter. Ohne sie wäre die Literatur heute anders" ("Nicht nur Nichts gegen Joyce"). Warum Kurt Palm, der sogar einmal Brenda Maddox wörtlich zitiert, die Quintessenz dieser Biografie nicht zur Kenntnis genommen hat, ist ein unverständliches Versäumnis.

Auch muss der Spekulation überlassen werden, warum die jüdische Herkunft Leopold Blooms, von Bloom selbst durch den ganzen Roman hindurch immer wieder problematisiert, bei Palm überhaupt nicht erwähnt, geschweige denn diskutiert wird. Zugegeben, gerade die amerikanische Joyce-Kritik hat diesem Thema vielleicht über Gebühr Aufmerksamkeit geschenkt. Das kann aber nicht als zureichender Grund gelten, diese wichtige Frage, die im Übrigen auch einen interessanten Altösterreich-Bezug aufweist, völlig zu übergehen. Leopold Blooms Stammbaum, der sich von einer Familie
Virag aus Szombathely herleitet (neuerdings historisch dokumentiert durch eine Tafel
an einem Haus im Stadtzentrum), weist nämlich ein "Missing link" auf, in das sich nach Joyces nicht ganz eindeutigem Hinweis im "Ulysses" ein Offizier der k.u.k. Armee, Julius von Hainau, gut einpassen ließe (vergleiche "Spectrum" vom 15. Juni 1996, Seite IV).

Der Rezensent ist sich, wie abschließend noch einmal betont sei, voll bewusst, dass Kurt Palm nicht einen Beitrag zur Joyce-Forschung, sondern zu einer breiteren Rezeption der Romane von Joyce zu leisten beabsichtigte. Jedes Bemühen in diese Richtung verdient an sich unseren Beifall, denn es ist ein wohl fast aussichtsloser Versuch, gegen den von den Massenmedien angetriebenen Strom der Bestseller-Kultur zu schwimmen. Sollte man sich dann als Mitglied der Joyce-Lesergemeinschaft nicht damit zufrieden geben, dass wenigstens ein paar der interessanteren Zitate aus seinem Werk, wenn schon nicht im Roman selbst, sondern in diesem Buch gelesen werden?

Leider macht es Kurt Palm dem Rezensenten sehr schwer, eine so nachsichtige Summe aus seiner Kritik zu ziehen. Palm erklärt nämlich mehrmals, dass der Zugang zu Joyce am besten ermöglicht werde, wenn man "den ganzen Ballast beiseite räumt, den die Literaturwissenschaft in den letzten 80 Jahren um dieses Buch angehäuft hat". Hier wird eine jedem Autor gesetzte Grenze der intellektuellen Redlichkeit überschritten, was nicht ungerügt bleiben darf.

Ohne die Arbeiten von Richard Ellmann zum Beispiel - um nur einen von vielen hochverdienten Joyce-Forschern zu nen-nen -, dem Verfasser der monumentalen Joyce-Biografie, dem es, entgegen großen Widerständen, gelang, auch die sogenannten "Dirty letters" herauszugeben, aus denen sehr ausführlich zitiert wird, hätte Kurt Palm vermutlich nur wenige Seiten seines Buches füllen können. Sollte man also nicht froh darüber sein, dass es auch für Bücher wie dieses heute noch Subventionen gibt? [*]

Kurt Palm: Der Brechreiz eines Hottentotten. Ein James-Joyce-Alphabet von Aal bis Zahl. 280 S., geb., € 25,50 (Löcker Verlag, Wien)

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