EU streitet um Schulden und das F-Wort

German Finance Minister Wolfgang Schaeuble arrives at news conference to present 2015 federal budget draft in Berlin
German Finance Minister Wolfgang Schaeuble arrives at news conference to present 2015 federal budget draft in Berlin(c) REUTERS
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Italien und Frankreich wollen staatliche Investitionen aus der Defizit-Kalkulation ausklammern, Deutschland will hingegen die bestehenden Spielräume ausnutzen, um Wachstum anzukurbeln.

Brüssel. Sie ist der herbeigesehnte Rettungsanker für schuldengeplagte EU-Hauptstädte, die ultimative Projektionsfläche für alle Wünsche nach einem nebenwirkungsfreien Mittel gegen die anhaltende Stagnation und zugleich der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle europäischen Entscheidungsträger scheinbar einigen können – die Rede ist von der „Flexibilität“, Europas Modewort des Sommers, das seit der Europawahl Ende Mai in der ganzen Union die Runde macht. Zum ersten Mal in Umlauf gebracht wurde das F-Wort vom italienischen Regierungschef, Matteo Renzi, dessen Sozialdemokraten die Wahl triumphal für sich entschieden hatten, doch mittlerweile gehört es zum Standardrepertoire aller Politiker.

Als Herman Van Rompuy zur Vorbereitung des EU-Gipfels vergangenen Freitag ein Strategiepapier zur Zukunft der EU an die Staats- und Regierungschefs schickte, durfte es selbstverständlich nicht fehlen: Auf ihrem Weg aus der Krise müsse die EU ihre „eingebaute Flexibilität“ voll ausschöpfen, formulierte der Ratspräsident. Und auch im Europaparlament steht sie auf der Tagesordnung. Der Umgang der EU-Mitglieder mit den ökonomischen Richtlinien der Union müsse „flexibler gestaltet“ werden, forderte der frischgebackene Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Gianni Pitella – und verglich die angesprochene Flexibilität mit der rettenden „Sauerstoffflasche“, die bei der Operation am offenen Herzen der europäischen Konjunktur bisher zu spät zum Einsatz gekommen sei.

Angesichts der Tatsache, dass der Begriff sowohl links als auch rechts von der politischen Mitte evoziert wird, liegt der Verdacht nahe, dass die handelnden Personen nicht dasselbe meinen, wenn sie von Flexibilität sprechen. Und in der Tat gibt es zwischen dem Bundeskanzleramt in Berlin, dem Pariser Elysée-Palast und dem Palazzo Chigi in Rom Unterschiede in der Interpretation. Im Kern geht es darum, wie mit dem vor allem in Südeuropa alles andere als beliebten Stabilitätspakt umzugehen und wie die anhaltende Konjunkturkrise zu bekämpfen sei.

Unterschiedliche Diagnosen

Gemäß der in Italien und Frankreich gängigen Lesart können die Schuldenberge nur dann abgetragen werden, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Angesichts der momentanen Stimmungslage könne es dieses Wachstum ohne Zupacken der öffentlichen Hand aber nicht geben – was wiederum durch die im Stabilitätspakt festgelegten Defizitregeln (maximal drei BIP-Prozent Neuverschuldung) verhindert. Der einzige Ausweg laut Renzi: Brüssel müsse staatliche Investitionen in Infrastruktur sowie die Eigenanteile für die vom EU-Strukturfonds finanzierten Projekte aus der Defizit-Rechnung ausklammern. Dem italienischen Premier schwebt dabei ein jährlicher Betrag von zehn Milliarden Euro vor.

Anders die Diagnose in Berlin: Dort gelten überbordende Schulden als die Hauptursache der Wachstumsschwäche. Demnach kann die Wirtschaft erst dann wieder wachsen, wenn die Defizite unter Kontrolle gebracht werden. Von buchhalterischen Tricks hält Finanzminister Wolfgang Schäuble denkbar wenig – doch auch er wünscht sich mehr Investitionen in die volkswirtschaftliche Substanz. Im Unterschied zu Renzi will er diese aber transparent finanzieren, auf die Unterstützung der Europäischen Investitionsbank (EIB) zugreifen und ansonst die unternehmerischen Instinkte fördern: „Um private Investitionen anzuregen, müssen wir einen Markt für Risikokapital entwickeln und alternative Finanzierungsformen wie Unternehmensanleihen stärker nutzen“, schrieb er vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag für das „Wall Street Journal“.

Ko-Autor des Texts war übrigens Schäubles italienischer Kollege, Pier Carlo Padoan – ein Indiz dafür, dass Renzis Wunsch (zumindest auf absehbare Zeit) nicht in Erfüllung gehen wird. In den Schlussfolgerungen des jüngsten EU-Gipfels ist lediglich davon die Rede, die im bestehenden Regelwerk vorhandenen Spielräume bestmöglich zu nützen – also den Defizitsündern mehr Zeit für die Sanierung ihrer Haushalte zu geben.

Ob die Flexibilisierungsdebatte damit definitiv erledigt ist, ist fraglich. Denn die angesprochenen Spielräume werden bereits eifrig genutzt – Frankreich beispielsweise hatte von der EU-Kommission vor zwei Jahren zusätzlich Zeit bekommen, um das Defizit bis 2015 auf drei BIP-Prozent zurückzufahren. Geholfen hat diese Flexibilität allerdings nicht: Die Neuverschuldung in Frankreich wird sowohl heuer als auch nächstes Jahr über der Drei-Prozent-Marke liegen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2014)

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