Udo Jürgens war kein Schlagersänger. Sondern der nachhaltigste Botschafter einer Moderne, die längst wieder verklungen ist. Einer Moderne, in der schon die Jahreszahlen auf den Covers wie eine progressive Ansage wirkten.
Kann, darf, soll man etwas zu Udo Jürgens sagen, zum finalen Abschied eines Künstlers, dessen Œuvre man nie sorgfältig wahrgenommen hat? Oder ist es ein Wagnis, das zu gleichen Teilen publizistischer Pflichtschuldigkeit und professioneller Vermessenheit entspringt?
Denn die Wahrheit ist: Ich habe zeit seines Lebens nie ein Konzert des Mannes besucht, nie ein Album von vorn bis hinten durchgehört, gerade einmal ein halbwegs nennenswertes Interview mit ihm geführt. Doch ergaben sich – abseits der aktuellen Flut an Reminiszenzen, Dokumentationen und aus traurigem Anlass hervorgeholten Aufzeichnungen – viele Berührungspunkte. Sei es, weil man eine Trennlinie zwischen Pop, Austropop, deutschsprachigem Chanson und Schlager zu definieren versuchte (Udo Jürgens war als weltläufiger Entertainer bald auf dieser, bald auf jener Seite zu finden, fast immer haarscharf an der Grenze). Sei es, weil im Zug des allgemeinen Taumels um den Song Contest der Name immer wieder fiel, zwangsläufig fallen musste, im historischen Kontext wie auch im Reigen der möglichen Stargäste im Mai 2015 in Wien. Udo Jürgens wäre der denkbar souveränste Gastgeber gewesen.
Der Komponist, Sänger und Entertainer Udo Jürgens ist am Sonntagnachmittag gestorben. Er brach am Sonntagnachmittag während eines Spaziergangs in Gottlieben (Schweiz) zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus in Münsterlingen. Jürgens wurde 80 Jahre alt. Ein Porträt des großen Sängers: (c) APA/dpa
Udo Jürgen Bockelmann wurde am 30. September 1934 in Klagenfurt geboren. Im elterlichen Schloss Ottmanach in der Gemeinde Magdalensberg nahe Klagenfurt wuchs er auf. Mit zehn Jahren wollte er der Hitlerjugend beitreten, "weil es geheißen hat, die Lehrer dürfen einen dann nicht mehr schlagen". (c) APA/dpa
Sein Gastspiel bei der HJ war kurz, der zarte, kränkelnde Bub war den Vorgesetzten nicht männlich genug. Bleibende Erinnerung an diese Zeit hatte er trotzdem, die Ohrfeige eines Jugendschaftsführers bescherte ihm am linken Ohr einen deutlichen Hörverlust. (c) dpa/dpaweb (A3250 Oliver Berg)
Seine musikalische Laufbahn begann Udo Jürgens als Fünfjähriger mit einer Mundharmonika, drei Jahre später bekam er ein Akkordeon geschenkt. Schon als Zwölfjähriger beschloss er, dass er Musiker werden will und schrieb sich am Konservatorium in Klagenfurt ein. (c) dpa (Horst Ossinger)
Anfang der 50er Jahre trat er dort in diversen Lokalen unter dem Namen "Udo Bolan" auf, die Begeisterung der Zuhörer sei "enden wollend" gewesen, meinte er später. 1950 gewann er bei einem Komponisten-Wettbewerb des Österreichischen Rundfunks unter 300 Einsendungen mit dem Lied "Je t'aime" als jüngster Teilnehmer den 1. Preis. 1959 erzielte er einen ersten Achtungs-Erfolg mit "Jenny". (c) APA/dpa
Schon bald wurden Plattenfirmen und Manager auf das Songwriting-Talent Jürgens' aufmerksam. 1960 komponierte er für Shirley Bassey den Welthit "Reach for the Stars". Matt Monro verkaufte mit der englischen Version von "Warum nur, warum?" ("Walk Away") auf Anhieb 1,5 Millionen Schallplatten. Die deutschsprachige Originalversion wurde ein Nr.1-Hit in Frankreich. (c) imago stock&people (imago stock&people)
Jürgens komponierte für Frank Sinatra "If I Never Sing Another Song". Dieser trat den Titel wegen einer Karrierepause an seinen Freund Sammy Davis Jr. ab, der von da an jedes seiner Konzerte mit diesem Lied beendete. (c) imago stock&people (imago stock&people)
Für die englischsprachige Version seines Hits "Buenos Dias Argentina", die Marty Robbins aufgenommen hatte, gewann Jürgens den Country Music Award der ASCAP (American Society of Composers, Authors and Publishers). (c) APA/EPA/CHRISTIAN CHARISIUS (CHRISTIAN CHARISIUS)
Der Erfolg stürzt ihn aber auch in eine tiefe Krise. Er trank und rauchte exzessiv, raste stockbetrunken mit 220 km/h über die Autobahn. "Damals war ich dem Tod näher als heute", meinte Jürgens einmal im Rückblick. (c) imago/ZUMA/Keystone (imago stock&people)
Auch Jürgens' Siegeszug als Solo-Künstler in der deutschsprachigen Musiklandschaft begann in den Sechzigern. Bei seiner dritten Song-Contest-Teilnahme fuhr er 1966 mit "Merci Cherie" den Sieg ein, den ersten und einzigen ESC-Erfolg für Österreich, bis 2014 Conchita Wurst den europäischen Liederwettbewerb gewann. (c) APA/dpa
Er lieferte auch eine Erklärung für die Exzesse: "Es ist schwerer, einen gigantischen Erfolg zu verdauen als mit Misserfolg klar zu kommen, denn erfolglos sein ist der ganz normale Wahnsinn eines jungen Künstlers." (c) APA/dpa
Auch als Frauenheld machte sich der Schlagerstar einen Namen. Es gab ständig wechselnde Liebschaften, Beziehungsprobleme und schließlich die Scheidung, 2006 von seiner langjährigen Frau Corinna. Er hatte sie als 16-Jährige kennen gelernt, danach waren die beiden 30 Jahre zusammen. (c) imago stock&people (imago stock&people)
In erster Ehe war der Sänger von 1963 bis 1989 mit dem ehemaligen Fotomodell Panja verheiratet. Aus dieser Verbindung stammen die erwachsenen Kinder Jenny und Jonny. "Ich war keiner meiner Frauen treu. Das ist eine Schuld, mit der ich leben muss", gestand er einmal. (c) imago stock&people (imago stock&people)
Sein musikalischer Erfolg bleib von seinen Eskapaden unberührt, an die 100 Millionen Tonträger hat Udo Jürgens verkauft. Rund 1000 Lieder hat Jürgens im Laufe seiner Karriere komponiert. (c) APA/dpa
Die Liste seiner Hits scheint unendlich lange, von "Griechischer Wein" über "17 Jahr, blondes Haar", "Aber bitte mit Sahne", bis zu "Es wird Nacht, Senorita" und "Buenos dias, Argentina", reicht die Palette. (c) APA/dpa
Dabei ist er sich selbst bis zuletzt treu geblieben, seine Kompositionen sind weitgehend unberührt von Trends und Zeitgeist. Der Grundtenor seiner Texte ist fast immer sozialkritisch, auch wenn einige seiner Lieder bereits zu Bierzelt-Hymnen mutiert sind. (c) APA/dpa
Als Komponist und Textdichter ist es Udo Jürgens gelungen, unvergessliche Melodien mit mal heiteren, mal nachdenklichen und philosophischen Texten zu vereinen", hieß es im Frühjahr in der Begründung für den Musikautorenpreis des Musikrechteverwerters Gema. (c) APA (D�ren Ursula/dpa)
Nicht nur als Musiker, auch als Autor verdiente sich Jürgens seine Sporen. Sein später verfilmter autobiografischer Roman "Der Mann mit dem Fagott" schaffte es auf die Bestsellerlisten. Auch das Udo-Jürgens-Musical "Ich war noch niemals in New York" wurde zum Erfolg. (c) dpa/Uwe Anspach (Uwe Anspach)
Seit 1977 lebte Udo Jürgens in Zürich, 2007 nahm er zudem die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Seine Heimat Kärnten besuchte er bis zuletzt regelmäßig, auch seines Bruders wegen. Manfred Bockelmann ist Maler, und Udo hat ihm einmal auch ein Lied mit dem schlichten Titel "Mein Bruder ist ein Maler" gewidmet.Vor drei Wochen feierte Jürgens noch den Auftakt seiner Österreich-Tournee "Mitten im Leben". Am 21. Dezember starb der große Sänger.Im Bild: Mit Manfred Bockelmann und Tochter Jenny Jürgens (c) APA/EPA/CHRISTIAN CHARISIUS (CHRISTIAN CHARISIUS)
Sein Leben, seine Lieder, seine Lieben
„Eine seltsame, unerwartete Trauer“
Das unterschied ihn von den Sternchen und 15-Minuten-Stars des Gewerbes: eine Vita, die Erfahrungsreichtum, Leidenschaft und Vitalität mit handwerklicher Meisterschaft und ungebrochener Produktivität verschmolz. Respekt vor dieser Lebensleistung – abseits kleinmütiger Genrezuschreibungen – ist es, der jetzt sichtbar wird. In einer auch für abgebrühte Social-Media-Nutzer erstaunlichen Dichte, Detailfülle und Emotionalität. „Es ist eine seltsame, unerwartete Trauer“, schreibt der Fotograf und Journalist Manfred Klimek auf Facebook: „Das Werk des Künstlers ging mir selten nahe, doch mit ihm starb ein letzter Teil meiner Kindheit und Jugend: der Grundig-Farbfernseher, der Dual-Plattenspieler, der Sonntagsspaziergang, die kartenspielenden Tanten, die dabei selbst gestopfte Zigaretten rauchten und die Buttercremetorte beim Szauter. Das ist es, was mich heute so melancholisch macht. Und die Gewissheit, dass der alle vereinende Entertainer entweder Mario Barth heißt oder ein rechtsextremer Politiker ist. Er ging gerade rechtzeitig, um von all dem Neuen nicht mehr eingeholt zu werden.“
Es ist eine leise resignative Erinnerung, weniger an Udo Jürgens als Person und Künstler, vielmehr an eine Ära. Aber allein, dass einem leichtfertig als Schlagersänger etikettierten Bonvivant solch eine ganze Jahrzehnte prägende Strahlkraft zugeschrieben wird, ist signifikant. Man ist versucht, Klimeks Ausführungen zu ergänzen: Den symbolhaft biederen Tanten jener Tage stieß der rebellische Gestus von Jürgens' Texten auf. Hits wie „Griechischer Wein“, „Tausend Jahre sind ein Tag“ oder „Ein ehrenwertes Haus“ schmuggelten bohrende Fragen in Wirtshaus-Jukeboxes und Seniorenkränzchen, „Gehet hin und vermehret euch“ landete auf dem Index des Bayerischen Rundfunks. Es war diese Verzahnung von Haltung und Unterhaltung, die die Gefolgschaft des zuletzt in der Schweiz sesshaften Weltbürgers den Dunst der Bierzelte meiden ließ. Zumindest weithin. Vor der Zuneigung seltsamer Gestalten der jüngeren Geschichte bewahrte es ihn nicht: Die studiogebräunte lokale Politkamarilla sah in ihrem ehemaligen Landsmann – ja, was eigentlich? „Man muss sich jetzt nicht mehr entschuldigen, dass man aus Kärnten stammt“, sagte er in einem Interview nach der Abwahl der Erben Jörg Haiders: „Es stört mich einfach, wenn etwas nach faschistischem Gedankengut riecht. Da werde ich nervös.“
Derlei unzweideutige Positionen und ihre öffentliche Darlegung – geeignet, nicht nur den einen oder anderen Politgünstling am Ruder eines Medienunterhaltungsdampfers unrund zu machen – haben Udo Jürgens bis zuletzt geprägt. Seien es Anmerkungen zur fremdenfeindlichen Politik seiner Wahlheimat oder generell zur sozialen Zerrüttung unserer Gesellschaft – gerade die Diskrepanz zwischen routiniert-smartem, fast juvenilem Auftreten, weit entfernt von der seriell-öden Endlosreproduktion der eigenen Karriere, und der offensiven moralischen Seriosität eines Urgesteins verlieh diesen Botschaften eine sanfte Nachdrücklichkeit.
Udo Jürgens hat rund 1000 Lieder komponiert und mehr als 50 Alben veröffentlicht. Einige Hits wurden zu Allgemeingut. Zehn seiner schönsten Songs. Auswahl: Samir H. Köck
Der Refrain des melancholischen Liebesliedes ist ungewöhnlich: Eine Klaviermelodie. Der Text stammt von Joachim Fuchsberger.
Mit der japanischen Version von "Morgen bist du nicht mehr allein" versuchte Udo Jürgens 1969 die Charts in Japan zu stürmen.
Auf Französisch klingt das Abschiedslied, komponiert von Tommaso Albioni, noch trauriger.
Das Lied für seine Tochter Jenny, aufgenommen mit ihr im Duett. Der Text stammt von Wolfgang Hofer.
Ausflug in das Disco-Fach. So zeitgeistig war Udo Jürgens selten. Den Text schrieb Fred Jay.
Dass es sich bei der beliebten Mitsing-Summer um einen Song über Gastarbeiter handelt, vergisst man gerne. Das Echo des Hits des Jahres hallt bis nach Athen, wo der griechische Ministerpräsident Karamanlis Jürgens und Textdichter Michael Kunze empfing.
Der Hit wurde Titel eines deutsch-italienischen Musikfilms, der 1966 in die Kinos kommt. Sowohl Komposition als auch Text stammen aus der Feder des damals 28-Jährigen.
Shirley Bassey: ''Reach for the Stars'' (1960)Der Song erklomm im September 1961 die Nummer eins der britischen Charts. Der englische Text stammt von Norman Newell. (c) imago stock&people (imago stock&people)
Eigentlich für Frank Sinatra gedacht, ist der Song heute untrennbar mit Sammy Davis Jr verbunden. Er schloss damit immer seine Konzerte ab. Den Text steuerte Don Black bei. Auch Shirley Bassey stand der Song gut.
Zur Sehnsucht nach der Heimat kommt jene nach der Jugend in der englischen Version von ''Griechischer Wein''.
Seine 10 schönsten Songs
Mitten im Leben
Wenn man genau hinschaut, war Udo Jürgens ein Wegbereiter (oder mindestens -begleiter) einer Moderne, die heute schon wieder Geschichte ist. Von den seichten, aber einprägsamen Schlagern der Sechzigerjahre – der Song-Contest-Titel „Merci Chérie“ ist prototypisch – hin zu den nachdenklichen, neugierigen Chansons der Siebziger und Achtziger war es ein erstaunlich kurzer Weg. Ab 1968 waren schon die Hüllen der oft nur „Udo“ samt Jahreszahl betitelten Alben – zumal innerhalb der engen Klischees des Schlagerfachs – klar fortschrittliche Botschaften. Die leichtgewichtigeren, oft aus dem Handgelenk geschüttelten Petitessen dienten – „Aber bitte mit Sahne“ – zur Abrundung. Goldene Alben, „größte Erfolge“, Starporträts und Huldigungscompilations sonder Zahl ließen die Verkaufsbilanz auf hundert Millionen verkaufte Tonträger anwachsen.
Aber es sind nicht Zahlen, die im Rückblick auf den Künstler und Menschen Udo Jürgen Bockelmann so sehr beeindrucken. Es ist auch nicht die Fülle an Evergreens, die jeder von uns anstimmen kann. Es ist das Gesamtkunstwerk, das unvermittelt (und, ja, auch unvermutet) beim Zusammentragen der biografischen Wegmarken greifbar wird.
„Mitten im Leben“ hieß – bittere Ironie – die letzte Tour. Für Februar 2015 war in der Wiener Stadthalle schon ein Zusatztermin fixiert, er findet sich noch auf den Webpages der Kartenbüros. Das Ende des größten Entertainers des deutschsprachigen Raums kam zu unerwartet, zu jäh, zu überraschend, nicht nur für die engsten Begleiter, sondern auch für die Fans und professionellen Beobachter des Showgeschäfts. Tröstlich allein ist der Gedanke, dass – bei aller Tragik – Udo Jürgens persönliche Bilanz „mitten im Leben“ über seinen 80.Geburtstag hinaus durch weitere Superlative nicht mehr anzureichern schien. Der Mann hat alles erreicht, alles gegeben, alles verdient. Merci.
Walter Gröbchen, geboren 1962 in Wien, ist Musikmanager, Journalist und Austropop-Experte.
Der Leichnam des verstorbenen Musikers soll auf dessen Wunsch hin eingeäschert werden. Zudem soll eine öffentliche Trauerfeier stattfinden. Spekuliert wird, ob Jürgens ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof erhält.
Bei einem Spaziergang ist der Sänger und Komponist plötzlich gestorben. Er hinterlässt große Lieder von „Immer wieder geht die Sonne auf“ über „Merci Cherie“ bis „Griechischer Wein“. Ein Nachruf.