Griechenland: "Der Zorn wird entscheidend sein"

(c) REUTERS (ALKIS KONSTANTINIDIS)
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Nächsten Sonntag finden in Griechenland Wahlen statt. Die Sparpakete haben tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen – Umfragen zufolge kann das Radikale Linksbündnis Syriza mit hohem Stimmenzuwachs rechnen. Wie es dem Land heute geht, erzählen stellvertretend drei Griechen.

Fünf bleierne Jahre liegen hinter Griechenland. Anfang 2010 schlitterte das Land in die faktische Zahlungsunfähigkeit, mit Mühe wurde es mit einem gigantischen Rettungspaket der europäischen Partner und des Internationalen Währungsfonds in Höhe von 240 Milliarden Euro vor dem Bankrott gerettet. Diese fünf Jahre haben für die griechische Bevölkerung dramatische Änderungen in der Lebens- und Arbeitswelt mit sich gebracht, verbunden mit einem Verlust an Einkommen, Lebensqualität und Perspektive. Die mit geborgtem Geld angestrebte Europäisierung, das heißt die Konvergenz der Einkommen mit den Kernstaaten der Europäischen Union, ist gescheitert. Kein Stein scheint auf dem anderen geblieben zu sein.

Die Parlamentswahlen am 25. Jänner 2015, die von den Parteien durch die gescheitere Wahl des Staatspräsidenten im Dezember 2014 provoziert wurden, zwingen die Griechen nun, Bilanz zu ziehen. Überwiegt der Zorn über den Bruch des Gesellschafts- und des Generationenvertrages durch den Staat – oder überwiegt die Furcht vor dem Verlust dessen, was den Menschen geblieben ist? Das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit der augenblicklichen Regierung, den Umbau von Wirtschaft und Staat im besten Interesse des Landes durchzuführen?

Zorn an den Wahlurnen. Von einzelnen Ausbrüchen der Gewalt abgesehen – allen voran dem Tod von drei Bankangestellten bei einer der ersten Großdemonstrationen im Mai 2010 –, haben die Griechen sich erstaunlich ruhig in ihr Schicksal gefügt. Ihren Zorn brachten sie im Jahr 2012 allerdings an den Wahlurnen zum Ausdruck: Die beiden jahrzehntelang dominierenden großen Massenparteien, die sozialistische Pasok und die konservative Nea Dimokratia, haben stark verloren. Die Pasok kämpft um ihr Überleben im Parlament, auch die Nea Dimokratia hat Teile der Wähler an das Radikale Linksbündnis (Syriza) von Alexis Tsipras, vor allem aber auch an den rechten Rand verloren. Syriza hingegen stieg von einem marginalen Linksbündnis zur potenziellen Regierungspartei auf. Gleichzeitig erreichte die rechtsextreme Goldene Morgenröte, deren Parteiführung wegen Bildung einer verbrecherischen Organisation im Gefängnis sitzt, bei den letzten Europawahlen im Mai 2014 knapp neun Prozent.

Die Spar- und Belastungspakete der vergangenen Jahre bedrohen die Hauptquellen der Einkünfte der griechischen Haushalte: Gehälter und Pensionen aus dem staatlichen Sektor und der Privatwirtschaft sowie den Immobilienbesitz. In Griechenland verfügen etwa 80 Prozent der Bevölkerung über Grundeigentum. Der Rettungsanker für die meisten ist die Familie; ohne die Ersparnisse und den Immobilienbesitz der Elterngeneration wären viele griechische Haushalte zum Untergang verurteilt. Drei Griechen sprechen in der Folge stellvertretend für das Wahlvolk über den Urnengang, über Leben und Überleben in der Krise, über Europa, über die Zukunft der kommenden Generation.
Giorgos Chantzis. Jahrgang 1972, verheiratet, zwei Kinder. Chantzis ist Sportlehrer an einer bekannten Athener Versuchsschule. Er dichtet und schreibt an seiner Doktorarbeit. „Ich lebe seit 2005 in der Gemeinde Nea Ionia im Großraum Athen. Nea Ionia wird von kleinen Gewerbetreibenden und Geschäften, aber auch von den alten Siedlungen der Kleinasien-Flüchtlinge aus den 1920er-Jahren geprägt. Heute haben in den Siedlungen Migranten Einzug gehalten. Selbst die Wohnungseinbrüche in meinem Viertel, die in den letzten Jahren zugenommen haben, spiegeln die Krise wider. Immer häufiger wird auch in Kellern eingebrochen, gestohlen werden Olivenöl und Kleidung.

2009 habe ich nach Abzug der Steuern 19.500 Euro verdient. Im vergangenen Jahr waren es 12.500, unter Einrechnung der neuen Immobiliensteuer. Meine Frau Christina ist auch Lehrerin, sie bekommt genauso viel wie ich. Gehören wir im Griechenland der Sparmemoranden zum Mittelstand? Wahrscheinlich. Wir haben immerhin ein fixes Einkommen und leben in einer Eigentumswohnung. Wir sind ein typisches Beispiel für das „griechische Modell“ – die Eltern meiner Frau haben uns die Wohnung gekauft. Wir haben uns am Kauf beteiligt, den Kredit aber bereits vor der Krise abbezahlt.

Unseren Lebensstandard können wir aber nur durch die Hilfe unserer Eltern aufrechterhalten. Sie zahlen die Privatschulen unserer Kinder, ihre sportlichen Aktivitäten. Da man ihnen ihre Pensionen gekürzt hat, müssen sie aber nun auf ihr Erspartes zurückgreifen, um uns zu helfen. Sie haben ein Zusatzeinkommen durch die Vermietung eines Zeitungskiosks, aber auch diese Mieteinkünfte sind stark zurückgegangen. Sie gehören einer anderen Generation an, sie sind genügsam. Sie schaffen das.

Die Krise haben wir mit Verspätung zu spüren bekommen, durch die Lohnkürzungen und Sondersteuern. Wir haben unseren Lebensstil nach und nach einschränken müssen. Wir gehen nicht mehr in Restaurants, in den Supermarkt nur noch mit Einkaufsliste. Wir gehen nicht mehr aus. Die Wochenendausflüge wurden gestrichen.

Unsere Kinder haben keine bessere Zukunft als wir. Was für Chancen haben Jugendliche mit Uni-Abschlüssen, mit bester Ausbildung? Sie können bestenfalls mit einem Angestelltenjob und 1000 Euro im Monat rechnen. Was bleibt, ist der Trost der Kunst, der Mythos vom Schönen.

Das Radikale Linksbündnis (Syriza) wird vor allem im 2. Athener Wahlkreis und hier in den armen westlichen Gemeinden gewählt. In der Provinz ist Syriza nicht stark. Persönlich trauere ich dem Verlust der Sozialdemokratie nach. Das Zentrum ist verloren gegangen. Ich wünsche mir aber Parteien ohne Gewerkschaftsfunktionäre und lokale Parteibonzen. Europa hat die Menschen vergessen, vor allem die jungen Menschen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander. Europa hat keine Antwort auf die Immigration und die alternde Bevölkerung gefunden.

Ich würde gern ins Ausland gehen. Ich habe ein staatliches Stipendium für sechs Monate Aufenthalt in Florida in den USA bekommen. Aber das Unterrichtsministerium wollte mir keinen bezahlten Urlaub geben. Das Stipendium reichte gerade für die Miete. Ich musste es ablehnen.“

Konstantinos Spanomaridis. Jahrgang 1996. „Ich studiere Filmregie am privaten Metropolitan College in Athen. Es gibt eine staatliche Filmschule in Thessaloniki, aber es wurde mir abgeraten, sie zu besuchen – es fehlt an technischer Ausrüstung, die Uni ist verdreckt. Außerdem müsste ich nach Thessaloniki gehen und Miete zahlen.“ Spanomaridis wohnt im Athener Zentrum im gutbürgerlichen Kolonaki in einer vererbten Dachwohnung mit seinen Eltern und seiner Schwester.

„Seit 2014 darf ich wählen. Meine Eltern haben ständig die Nachrichten laufen, so bin auch ich über die politischen Entwicklungen informiert. Ich habe mir noch kein schlüssiges Bild darüber gemacht, was die beste Wahl für das Land ist. Es fehlte mir auch an Orientierungshilfe in der Schule.“

Geprägt haben ihn die schweren Unruhen nach der Ermordung des 15-jährigen Schülers Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten im Dezember 2008. „Wir waren zornig. Auch unsere Schule wurde besetzt. Aber es waren Bilder wie im Krieg. Alles hat gebrannt, sogar den Christbaum auf dem Syntagma-Platz haben sie abgefackelt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit gehen würden. Und dann die Demonstrationen in der Krisenzeit. Im Frühling 2012 brannte eines der traditionsreichsten Kinos Athens, das Attikon, ab. Ich meine, sie verbrannten Kultur, das war schlecht für das ganze Land.“ Konstantinos hat seine Eindrücke über die verbrannten Kinos Athens in einer Dokumentation mit dem Namen „Athen's Calling“ verarbeitet.

„Ich bin ein Optimist. Die Leute müssten sich jedoch bemühen, sie müssten einfach mehr geben, als sie von früher gewohnt sind.

Selbst die Lehrer in der Schule haben den Schülern geraten: ,Geht weg aus Griechenland.‘ Nach meinem Diplom gehe ich sicher an die Mutteruniversität meines Colleges in Schottland. Ich werde mein Glück im Ausland versuchen. In Griechenland hast du keine Aussichten mehr in meinem Beruf.“

Euridike M. Jahrgang 1961, arbeitslos. „Ich brauchte Platz für meine Hunde und Katzen, deshalb zog ich vor acht Jahren in die Hafenstadt Lavrio. So bin ich hängen geblieben. Man kennt sich, jeder grüßt jeden, ich wohne am Meer– es ist schön hier. Ich habe eine Ausbildung als Tänzerin, später arbeitete ich in der Privatwirtschaft, bis meine Firma 2013 pleiteging. Ich beziehe kein Arbeitslosengeld, und ich bin nicht versichert. Was passiert, wenn ich krank werde? Das Geld muss ich selbst aufbringen, mein Lebensgefährte und meine Eltern werden mir helfen. Viele Gedanken habe ich mir noch nicht darüber gemacht. Von einer Pension kann ich nicht einmal träumen.

Ich habe keine spezielle Ausbildung, die mir in meinem Alter einen Job sichern würde. Die Kunst ist brotlos. Meine Eltern haben hart gearbeitet in ihrem Leben, davon leben wir Kinder heute noch: Haus und Grundstück sind mein Eigentum. Ich besitze noch eine kleine Wohnung, normalerweise könnte ich mit Mieteinnahmen von 500 Euro monatlich rechnen. Angesichts der neuen Immobiliensteuer wäre es besser gewesen, ich hätte die Immobilie verkauft und hätte das Geld auf den Kopf gehauen – Immobilien rechnen sich nicht mehr in Griechenland. Ich arbeite schwarz in Gelegenheitsjobs. Um Versicherung und Steuer zahlen zu können, brauchte ich ein Bruttoeinkommen von 20.000 bis 25.000 Euro, sonst hat es keinen Sinn.

In den vergangenen Jahren blieb die Situation im Allgemeinen unter Kontrolle. Damals, als die drei Angestellten der Marfin-Bank bei der großen Demonstration starben, konnte man sehen, wie alle plötzlich zurücksteckten. Das war ein Schock für die Leute. Die Wahl bereitet mir ernsthaft Probleme. Soll ich wählen, soll ich nicht wählen? Unsere Parlamentarier kann ich nicht ausstehen. Sie sehen das Amt als Beruf, eine Arbeit wie jede andere. Haben unsere Politiker in diesen Jahren wirklich alles getan, um das Land zu retten? Man sollte die Sitze, die der Zahl der ungültigen Stimmen entsprechen, leer lassen. Auch der weiße Stimmzettel ist eine politische Meinung.

Die europäische Politik kommt mir wie ein Spiel vor, das ich nicht verstehen kann. Als ob ich ein Spiel spielen muss, dessen Regeln für mich im Dunkeln bleiben.

Wie wird die Wahl ausgehen? Der Zorn wird für die meisten Leute entscheidend sein, glaube ich. Das Bild, das ich mir von den Diskussionen in den Kaffeehäusern mache, ist beunruhigend. Alle erwarten sich, dass der Staat hilft, sie erwarten sich alles von den anderen. Die Leute verfügen nicht über genügend Wissen. Sie können nicht unabhängig denken. Ich ziehe Kommentare von Leuten aus dem Ausland, die logisch und ruhig denken, unseren aufgeregten Zeitungen vor.

Wenn es in Griechenland eine echte liberale Partei geben würde, dann würde ich sie wählen. Ich würde gern für eine Zeit lang ins Ausland, etwa nach Wien, gehen. Nicht wegen des Geldes. Ich fühle mich wohl in Europa. Aber nur nicht dauerhaft. Es ist schön hier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2015)

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