Die niederländische EU-Ratspräsidentschaft will in einem Deal mit Ankara alle Flüchtlinge zurückführen. Dafür sollen jährlich 250.000 aus der Türkei abgeholt werden.
Wien/Stockholm. 850.000 Menschen waren es allein im vergangenen Jahr, die von der Türkei kommend in kleinen Flüchtlingsbooten auf die griechischen Inseln übersetzten – und von dort zu einem großen Teil in den Norden Europas weiterreisten. Diesem Strom über die Balkanroute will die niederländische EU-Ratspräsidentschaft nun einen Riegel vorschieben, wie die Zeitung „de Volkskrant“ am gestrigen Donnerstag berichtet hat: Der Plan sieht vor, die Flüchtlinge von Griechenland mit Fähren direkt in die Türkei zurückzubringen.
Im Gegenzug wollen mehrere „willige“ EU-Mitgliedstaaten – einige von ihnen haben sich bereits vor dem letzten EU-Gipfel im Dezember mit dem türkischen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, in der österreichischen Vertretung in Brüssel getroffen – ein jährliches Kontingent von 250.000 Schutzsuchenden aus der Türkei direkt übernehmen. Neben den Niederlanden und Österreich, das die Pläne dem Vernehmen nach unterstützt, zählen dazu Deutschland und Schweden. Auch hofft der niederländische Ministerpräsident, Mark Rutte, dass sich Frankreich, Italien, Spanien und Portugal anschließen. Andere Mitgliedstaaten könnten sich zumindest finanziell beteiligen, heißt es. Die Türkei sei bei einer Übernahme von Kontingentflüchtlingen durch die EU bereit, Migranten zurückzunehmen, erklärte der niederländische Fraktionsvorsitzende der regierenden Sozialdemokraten, Diederik Samsom.
Türkei als sicheres Herkunftsland
Die Hoffnung der Regierung in Den Haag ist freilich, dass sich der Flüchtlingsstrom durch gemeinsam organisierte Rückführungen insgesamt deutlich verringert. Wenn sich die Situation der Asylsuchenden in der Türkei verbessere und das Land als sicheres Herkunftsland eingestuft werden könne, sollen erste Fähren die in Griechenland ankommenden Personen bereits ab März oder April zurück auf das türkische Festland bringen.
Derzeit reisen immer mehr Menschen aus den Maghreb-Staaten in die Türkei ein, um sich unter den Strom von Flüchtlingen zu mischen – sie haben in der EU aber kaum Aussicht auf Asyl. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, sprach zuletzt gar von 60 Prozent Wirtschaftsflüchtlingen, die im Dezember nach Europa kamen. Die Zahlen beruhen auf einer noch nicht veröffentlichten Erhebung der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Sollte sich der niederländische Plan verwirklichen lassen, wäre damit auch Griechenland entlastet, das seit Wochen unter massiver Kritik steht, die Außengrenze nicht ausreichend zu schützen. Zuletzt setzte die EU-Kommission dem Mittelmeerland eine Frist von drei Monaten, um „ernsthafte Defizite“ zu beseitigen.
Das Nicht-EU-Land Mazedonien, über das die Flüchtlinge von Griechenland kommend in den Norden weiterreisen, hat die Grenze am Mittwoch bereits für mehrere Stunden gesperrt. Sollte diese Sperre künftig von Dauer sein und auch Frontex-Grenzwächter dafür eingesetzt werden, wäre Griechenland de facto vom Schengen-Raum abgeschnitten – Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat vor Tagen mit einem Rauswurf des Landes aus dem grenzfreien Raum gedroht.
Schweden will Flüchtlinge ausweisen
Schwedens rot-grüne Regierung plant bereits jetzt eine Abschiebung von bis zu 80.000 abgelehnten Asylbewerbern. Dazu sollen Flugzeuge angemietet werden. Die Massenabschiebung wolle man am liebsten in Zusammenarbeit mit Deutschland durchführen. Das kündigte der sozialdemokratische Innenminister, Anders Ygeman, am Donnerstag der Wirtschaftszeitung „Dagens Industri“ an.
Bis zum Jahreswechsel hatten 163.000 Personen Asyl im 9,8 Millionen Einwohner zählenden Schweden beantragt. Rund 55 Prozent der Anträge werden voraussichtlich bewilligt und 45 Prozent abgelehnt. Die abgelehnten Asylbewerber sollen nun auch das Land verlassen. „Ich glaube, es handelt sich um 60.000 bis 80.000 Personen“, sagte Ygeman. Er habe Polizei und Einwanderungsbehörde dazu aufgerufen, entsprechende Strukturen zu schaffen. Die meisten Abschiebungen sollen wegen der langen Prüfverfahren erst Anfang 2017 durchgeführt werden. „Das ist eine große Herausforderung, die vor uns liegt. Wir müssen die Ressourcen dafür erweitern und die Zusammenarbeit der Behörden verbessern“, sagte er. „Die bevorzugte Maßnahme ist, dass wir die freiwillige Heimkehr durchsetzen und dafür gute Voraussetzungen schaffen. Aber wenn das nicht klappt, müssen wir Zwang anwenden“, so der Innenminister, der Charterflüge unter EU-Regie favorisiert. Stockholm will unter anderem Afghanistan und Marokko überreden, Widerstände zur Rücknahme von Flüchtlingen aufzugeben.
Schwedens Aufnahmesystem war im vergangenen Jahr kollabiert. Flüchtlinge mussten teilweise im Freien übernachten. Sechs bis neun Monate dauerte es, bis in Asylfällen entschieden wurde. Abgewiesene Flüchtlinge wurden de facto geduldet. Nicht anerkannte Flüchtlinge, die einfach in den Asylheimen geblieben sind, obwohl die Plätze dringend für neu Ankommende gebraucht werden, haben zum Teil weiterhin staatliche Unterstützung in Form von Geld für Essen, Kleidung und Medizin bekommen. Auch gilt in Schweden eine medizinische Grundversorgungspflicht für Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung.
Die stetig steigende Anzahl von Nichtausreisewilligen wurde lang in der politischen Debatte ausgeklammert. Doch die Stimmung ist zum Jahreswechsel gekippt, als klar wurde, dass immer mehr Flüchtlinge kommen und die Einwanderungsbehörde offen zugegeben hat, der Situation nicht mehr gewachsen zu sein.
AUF EINEN BLICK
Die Niederlande bereiten laut der Tageszeitung „de Volkskrant“ einen europäischen Plan vor, nach dem Flüchtlinge von den griechischen Inseln direkt mit Fähren in die Türkei zurückgeschickt werden sollen. Laut dem Plan, den Österreich unterstützt, würden sich die EU-Mitgliedstaaten im Gegenzug verpflichten, bis zu 250.000 Flüchtlinge pro Jahr direkt aus der Türkei zu übernehmen. Unter dieser Bedingung ist Ankara bereit, die abgewiesenen Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Der niederländische Ministerpräsident, Mark Rutte, habe darüber bereits intensiv mit Österreich, Deutschland und Schweden – den Ländern mit den höchsten Flüchtlingszahlen – beraten. Die Hoffnung sei, dass sich Frankreich, Italien, Spanien und auch Portugal der Initiative anschließen, heißt es in Den Haag.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2016)