Die Kinder des Islamischen Staats

Children eat fruits in Ghazila village after fighters from the Democratic Forces of Syria took control of the town from Islamic State forces in the southern countryside of Hasaka
Children eat fruits in Ghazila village after fighters from the Democratic Forces of Syria took control of the town from Islamic State forces in the southern countryside of HasakaREUTERS
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Systematisch erzieht die Terrormiliz in Syrien, im Irak und in Libyen Jugendliche zu "Killermaschinen". Die "Presse am Sonntag" hat mit zwei Kindern über ihre Zeit in den Fängen des IS gesprochen.

Salem hielt es nicht mehr aus. Er wollte nur noch nach Hause, heim zu Mutter und Vater. Eines Morgens schlich sich der zehnjährige Bub dann davon und schlüpfte unter dem großen Tor hindurch. Auf der Straße versteckte er sich unter parkenden Autos, bis ein Kleinbus anhielt, um eine Gruppe von Frauen und Kindern mitzunehmen. Salem nutzte die Gelegenheit und mischte sich unter die zusteigenden Fahrgäste. Der Bus brauste davon und mit ihm der Junge in die Freiheit, der eigentlich als Heiliger Krieger der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hätte sterben sollen.

Fast drei Monate hatte Salem in zwei Trainingslagern der Jihadisten an geheim gehaltenen Orten in Syrien und im Irak verbracht. Er war Teil einer Gruppe von insgesamt 150 Kindern zwischen sieben und 15 Jahren, die völlig abgeschottet von der Außenwelt, das grausame Handwerk des Tötens lernen mussten. Nach dem Aufstehen um acht Uhr, Frühstück und Morgengymnastik auf dem Hof beginnt das Ausbildungsprogramm. Die Kinder müssen mit Gewichten laufen. Damit sie das schneller tun, wird scharf auf sie geschossen. Danach Waffenkunde mit Gewehren und Pistolen. Anschließend gibt es Zielschießen auf längere Distanz.

Nach dem Mittagessen folgt eine Lektion über Sprengstoffgürteln, und die Kinder lernen, einen Wachposten mit einem Messerstich in den Hals zu töten. Zum täglichen Standardprogramm zählt das Training von Hinrichtungen mit Pistole, Schwert und Messer. Die Heranwachsenden werden mindestens zehn Wochen regelrecht zu „Killermaschinen“ erzogen. Sie proben jeden Handgriff über die Zeit Hunderte Male, bis sie ihn bis zur Perfektion beherrschen. Das Morden ist beim IS die normalste Sache der Welt, und die Kinder sollen es verinnerlichen. In Propagandavideos lässt der IS die angehenden Mudschaheddin gern martialisch in Uniform und mit Flaggen aufmarschieren. In einigen Fällen töten Minderjährige sogar Gefangene vor laufender Kamera.


Üben mit Strohhalm. „Man packt den Verurteilten an den Kleidern, schneidet dann den Kopf ab und legt ihn danach auf den Rücken.“ Mit flinken, einstudierten Handbewegungen zeigt Salem, wie das gemacht wird. In Sekundenschnelle zwingt der Zehnjährige das Opfer in die Knie, zieht das Messer über den Hals und demonstriert, wie der Kopf auf dem flach auf dem Boden liegenden Körper dann drapiert werden soll.

„So wird das gemacht“, sagt Salem und starrt einen mit seinen großen dunkelbraunen Kinderaugen an, als würde er Lob erwarten. Nur diesmal gibt es keinen Ausbilder. Denn alles ist nicht echt, sondern gespielt. Das Messer, das Salem in der Hand hält, ist ein Strohhalm, und das Opfer am Boden wird von seinem achtjährigen Bruder Hilat gemimt. Für ihn ist das nichts Besonderes. Auch er hat das Töten im IS-Stil gelernt. Allerdings war er nicht in einem abgeschotteten Trainingslager, wie sein Bruder Salem, sondern in einer „Schule“ der Extremisten in Syrien.

Mehr als ein Jahr lang ging er jeden Morgen in der Provinz Deressor in eine Madrassa der Jihadisten. Nachmittags durfte er wieder nach Hause. Das Rezitieren des Korans war ein Hauptfach, neben Kampftraining und Exekutionen. Hilat weiß aus dem Effeff, wie und wo man anpacken muss, um nach IS-Regeln zu enthaupten. Beide Brüder robben plötzlich über den Boden und rufen „Militärtraining“. Danach dringen beide mit ihren Strohhalmpistolen in ein Haus ein, schießen wie wild um sich, sichern die Stellung und geben Feuerschutz für Kameraden. Die „Schießerei“ macht den beiden Brüdern Spaß – nicht anders, als es Kindern gefällt, Cowboy und Indianer oder „Star Wars“ zu spielen. Salem und Hilat wissen natürlich, was sie beim IS lernten, ist kein alltägliches Kinderspiel. Aber so richtig ist das zu den beiden Buben nicht durchgedrungen.

„Unsere Ausbilder waren sehr nett, sie haben uns alles gegeben, was wir wollten, auch Geld und diese afghanischen Kleider“, sagt Salem, der Ältere. „Wir haben uns gut mit ihnen verstanden.“ Die Lehrer seien aus „ganz vielen verschiedenen Ländern“ gekommen. Sie nannten sich Abu Musab, Abu Mukhati al-Belschiki, Abu Mohammed und stammten aus Saudiarabien, Tunesien, Libyen, China, Belgien und Frankreich. Alle unterrichteten mit Masken über dem Gesicht, die sie nur in seltenen Ausnahmefällen abnahmen.

„Ein Belgier hat uns als Erster gelehrt, wie man enthauptet“, erinnert sich Salem. „Viele Ausländer“, bestätigt Hilat, seien auch in seiner Schule gewesen. „Ich mochte die Ausbilder“, sagt er. „Aber das, was wir lernen mussten, gefiel mir nicht“, fügt er eher zögerlich hinzu und wirkt dabei etwas verloren.

Die beiden Brüder waren einige der wenigen syrischen Kinder beim IS. Es gab nur noch drei weitere aus ihrer Heimat. Alle anderen stammten aus dem Ausland. „Da gab es Chinesen, Usbeken, Iraker, Franzosen und viele Kinder von Europäern“, erzählt Salem. Anscheinend schicken vorwiegend ausländische IS-Kämpfer, die mit ihrer Familie in den Jihad gezogen sind, ihren Nachwuchs ins Terrorcamp. Sie wollen sichergehen, dass ihre Söhne als vermeintlich echte Gotteskrieger erzogen werden.

2014 hatte der IS systematisch damit begonnen, Ausbildungslager für Kinder einzurichten. Damals sollte eine „neue Generation“ langsam herangezüchtet werden. Damit ist es jedoch vorbei. Eile ist angesagt, denn die Terrormiliz braucht dringend Nachschub an Frontkämpfern und Selbstmordattentätern. Die Bombenangriffe der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition rissen große Lücken in die Reihen der Jihadisten. Und die Kinder und Jugendlichen in den Ausbildungslagern kommen da gerade recht.

Sie sterben in einem bisher ungekannten Ausmaß, wie eine aktuelle Studie der Georgia State University in den USA belegt. So mussten unter 18-Jährige im Jänner 2016 dreimal so oft als Selbstmordattentäter herhalten als noch im Vorjahr. Das sei selbst für andere, vergleichbare Extremistenorganisationen außergewöhnlich hoch, befindet die Studie. Wer sich nicht selbst in die Luft jagt, muss an die Front. Der IS verheizt gnadenlos eine Jugend, die eine bessere Zukunft verdient hätte.


Der Hölle entronnen. Salem und Hilat sind der Hölle des IS entronnen. Der Ältere der Brüder floh mit seinem Onkel in die Türkei. Den Jüngeren brachte die Mutter über die türkische Grenze. Beide Male mussten Schmuggler bezahlt werden, um aus dem IS-Gebiet zu flüchten. Es waren abenteuerliche Reisen, die den Erwachsenen das Leben hätte kosten können.

„Wir wollten, dass die beiden Jungen aus der Atmosphäre der Gehirnwäsche entkommen, bevor es zu spät ist“, sagt Onkel Jusuf, der bei den Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) gegen das Assad-Regime und den IS kämpfte. Besonders Salem sei gefährdet gewesen. Er habe bereits an Checkpoints mit der Waffe in der Hand Dienst getan. „Vielleicht wäre er bald auf eine Todesmission geschickt worden und hätte es nicht einmal gemerkt“, erklärt Jusuf betroffen. „Diese Islamisten sind Verbrecher.“

Für den Onkel ist es wichtig, dass die Geschichte seiner beiden Neffen an die Öffentlichkeit gelangt. „Europa und die ganze Welt müssen begreifen, was der IS da heranzüchtet“, wiederholt er mehrfach. „Das sind tickende Zeitbomben und irgendwann tauchen die im Westen auf.“

„Gehirnwäsche“ bringt die Sache auf den Punkt. Der IS versucht mit allen psychologischen Tricks, Kontrolle über die Kinder und Jugendlichen zu gewinnen. Wie im Falle von Salem werden sie völlig isoliert gehalten. Der IS soll das Zuhause ersetzen. „Du bist jetzt ein Mudschahed, ein ganz besonderer Mensch, sagten meine Ausbilder zu mir“, erzählt Salem. „Ich würde jetzt meine Eltern nicht mehr brauchen, da der Islam mein Zuhause sei, das ich unter allen Umständen gegen Ungläubige verteidigen müsse.“

Jeden Tag wurden ihm und den anderen Kindern Videos vorgeführt, in denen Morde zu sehen waren. „Die mussten wir dann nachspielen“, sagt Salem. Auch der kleine Hilat berichtet von grausamen Videos, die er sich immer wieder hatte ansehen müssen. Mit der Alltäglichkeit von Gewalt sollten die Heranwachsenden die Hemmschwelle vor Bluttaten verlieren. Gleichzeitig wurde das Morden glorifiziert und kollektiv auf dem Exerzierhof eingeübt. So sinkt die Schwelle gegen die Anwendung von Gewalt.


Die blutige Arbeit des Bulldozers. Hinzu kam der Praxistest. Jeden Freitag nach dem Gebet in der Moschee musste Salem öffentlichen Exekutionen beiwohnen. Wie bei einem Schulausflug wurden alle Camp-Insassen in Bussen zum Schauplatz transportiert. „Wir mussten genau zusehen“, erzählt Salem. „Das Abhacken von Hand und Fuß, die Enthauptung mit Messer und Schwert.“ Salem macht plötzlich eine Drehbewegung, als hielte er mit beiden Händen ein Schwert fest und pfeift leise, um den Weg der Schneide durch die Luft nachzuahmen.

Die Schüler hätten sogar al-Bagdadi, den Bulldozer, bei seiner blutigen Arbeit beobachten dürfen. Dieser berüchtigte Henker, ein monströser, fetter Klotz, taucht in vielen Hinrichtungsvideos des IS auf. Er soll Hunderte von Menschen getötet haben. Zuletzt ermordete er einen 15-Jährigen, weil dieser Popmusik gehört hatte.

Nach den Exekutionsbesuchen durften die Buben nachts kein Auge zutun. Sie hätten Albträume haben können. Wer einschlief, wurde mit einem Kübel kalten Wassers geweckt. Zu essen gab es auch nichts. Womöglich hätte sich einer übergeben. So versuchten die IS-Ausbilder schlechte Erinnerungen an die Hinrichtungen zu tilgen. Dagegen sollten positive Gefühle erzeugt werden. Denn als Belohnung durften die Kinder am darauffolgenden Abend vor dem Schlafengehen wie ganz normale Kinder spielen. Das war etwas ganz Besonderes, weil es die Ausbilder selten zuließen. Selbst Fußballspielen wurde erlaubt, was an normalen Tagen gänzlich verboten war.

Zum Abschluss wollen Salem und Hilat unbedingt noch eine ihrer Übungen vorführen. Der Achtjährige mimt einen Selbstmordattentäter mit einem Explosivgürtel um den Bauch, der auf Mission unterwegs ist. Salem, der große Bruder, gibt ihm als Heckenschütze Feuerschutz. Denn ein Selbstmordattentäter muss unbedingt sein Ziel erreichen. Dann drückt Hilat auf einen imaginären Knopf an seiner Seite. „Und Boom, geschafft!“, sagt er lachend. Dass die Bombe ihn in der Realität in Tausend Stücke zerrissen hätte, darüber fällt kein Wort. „Wer sich selbst in die Luft sprengt, kommt ins Paradies“, meint Hilat. „Das haben unsere Ausbilder gesagt.“

Was wird nun aus diesen beiden Kindern? Haben sie in fünf oder zehn Jahren alles vergessen? Oder begleiten sie die grausamen Bilder ihr Leben lang? Haben beide eine Zukunft? Wer weiß, vielleicht finden Salem und Hilat wieder zurück in ein normales Kinderleben. Leicht wird das bestimmt nicht. Die Brüder sind damit nicht allein. Millionen von syrischen Kindern leben auf der Flucht, ohne ein Zuhause, ohne Ausbildung und Aussicht auf eine gute Zukunft. Aber die Vergangenheit mit dem IS ist eine besonders schwere Bürde, die Salem und Hilat von anderen unterscheidet.

Alle Namen und alle persönlichen Informationen wurden zum Schutz der Betroffenen vor möglichen Racheaktionen des IS geändert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2016)

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