Soll man Schieflagen im Sozialsystem nicht aufzeigen?

Replik. Interessant, dass gerade NGOs zur Verteidigung der Mindestsicherung ausreiten.

Die Berechnungen des Abgeordneten Sepp Schellhorn in der Debatte um die Höhe der Mindestsicherung sind für den Soziologen Nikolaus Dimmel falsch (siehe seinen „Presse“-Gastkommentar vom 2. 3.). Ideologie aber war bei der Bewertung von Fakten schon immer ein schlechter Begleiter. Professor Dimmel zimmert sich seine Welt mit vielen Konjunktiven zurecht.

Zu den Fakten: Der Familienvater, um den es ging, hatte keine Anwartschaft auf Arbeitslosenunterstützung. Daher gibt es keine Sperre bei Selbstkündigung, weil das im Recht der Mindestsicherung nicht vorgesehen ist. Der Alleinverdienerabsetzbetrag steht unabhängig davon, welche Einkünfte man bezieht, immer zu und wird als Negativsteuer ausbezahlt. Vorausgesetzt, die unbeschränkte Steuerpflicht ist gegeben, der Ehepartner verdient nicht mehr als 6000 Euro im Jahr, und es lebt mindestens ein Kind im Haushalt.

Die Ausbezahlung der Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbeträge an Familien in der Mindestsicherung ist völlig rechtens, aber ein Systemfehler. Warum? Haushaltsangehörige, wie Ehepartner und Kinder werden im Steuertarif nämlich nicht berücksichtigt, in der Mindestsicherung aber sehr wohl. Mit dieser Ungleichbehandlung hat die „Familienpartei“ ÖVP den Familien ein schönes Ei gelegt – von der linken Reichshälfte dürfte das bewusst so gewollt sein.

Eine Diskriminierung

Mit der eigenartigen Konsequenz, dass ein Alleinverdiener, der lohnsteuerpflichtige Einkünfte erzielt, mit drei Kindern im Haushalt rund 8000 Euro an Abgaben zu leisten hat, um auf das gleiche Nettohaushaltseinkommen zu kommen wie eine Familie in der Mindestsicherung. Das ist eine Diskriminierung gegenüber arbeitenden Menschen mit Kindern, scheint aber niemanden aufzuregen. Woran liegt das?

Ein Sozialstaat funktioniert, wenn er auf Gegenseitigkeit beruht. Es ist den Menschen in Österreich aber schwer erklärbar, dass eine Flüchtlingsfamilie, in der der Vater bereits einen legalen Job über dem Kollektivvertrag hatte, mit der Mindestsicherung plus Zuschüsse auf ein steuerfreies Jahreseinkommen ohne Erwerbstätigkeit von 36.000 Euro kommt.

Der Kreuzzug der NGOs

Dieser Debatte wird sich auch die SPÖ stellen müssen, denn das Ignorieren der politischen Mitte führt nur zur Radikalisierung des rechten Randes. Die Krux ist nämlich: Die Familie wird in der Mindestsicherung plus Transfers bleiben, da alles andere eine ökonomische Verschlechterung bedeuten würde. Darüber müssen wir reden, nicht über ein angebliches Kippen der Mindestsicherung.

Interessant, dass zurzeit just NGOs zur Verteidigung der Mindestsicherung ausreiten. Mit den NGOs wäre dazu eine gesonderte Auseinandersetzung zu führen, vor allem mit der Caritas und Diakonie, deren Vertreter vor der Spaltung der Gesellschaft warnen, obwohl sie diese selbst massiv betreiben. Österreichs katholische Kirche ist die reichste Institution hierzulande. Ihr Vermögen, das nicht für Religionsausübung notwendig ist, ist auf rund 80 Milliarden Euro zu schätzen. Allein der Grundbesitz umfasst 210.000 Hektar. Hinzu kommen unglaubliche Privilegien, vor allem im Steuerrecht.

Daher sind Aussagen wie „Die Armen wissen, wo die Reichen wohnen“ (© Franz Küberl) ein glatter Pogromaufruf und unerträglich, wenn man selbst zu den privilegiertesten Vermögenskumulierern gehört. Pikant, dass sich jetzt Caritas und Diakonie gegen eine Neiddebatte verwehren – um eine solche aber ging es nie. Es geht vielmehr um das Aufzeigen einer Schieflage im Sozialsystem. Aber das ist ebenso unerwünscht.

Gottfried Schellmann (* 1953) ist Steuerberater in Wien und berät den Neos-Abgeordneten Schellhorn in sozialpolitischen Fragen.

E-Mails an: obfuscationcom" target="_blank" rel="">debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)

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