Filmkritik zu „Maikäfer flieg“: Ein Abenteuer im Mauerstaub

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Mirjam Unger hat Christine Nöstlingers Erinnerungen an das Kriegsende wunderbar verfilmt. Der Diagonale-Eröffnungsfilm kommt am Freitag ins Kino.

Wie es vor dem Krieg gewesen ist, weiß Christine nicht. Solange sie sich zurückerinnern kann, war schon Krieg. Jetzt, gegen Ende hin, ist es besonders schlimm: Das Essen ist knapp, die Sirenen heulen dauernd, die Bomben fallen wie glänzende Perlenketten aus den Flugzeugen über Wien. Eine dieser Bomben fällt schließlich auf das Haus, in dem Christine mit ihrer antifaschistischen Familie wohnt.

Hier beginnt „Maikäfer flieg“, die Verfilmung von Christine Nöstlingers autobiografischem Roman „Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich“. Es ist Frühling 1945, die Nöstlingers sind ausgebombt. Christine (Zita Gaier) klettert auf den Schutthaufen, der einmal ihre Bleibe war. Die Mutter (Ursula Strauss) nimmt das Angebot, mit ihren Töchtern in eine Nazi-Villa in Neuwaldegg zu ziehen, dankbar an.

Die ländliche Ruhe währt nicht lang: Erst stößt der Vater (Gerald Votava) dazu, dem die Beine zerschossen wurden und der mit Granatsplittern im Bein aus dem Lazarett desertiert ist – er muss vor den Deutschen wie vor den Russen versteckt werden –, dann die Hausherrin der Villa mit ihrem Sohn. Und schließlich kommen die langersehnten und gleichzeitig gefürchteten Russen, die in der Villa Quartier beziehen. Sie saufen und grölen und zerschießen blindwütig die Einrichtung. Christine kommt das weniger bedrohlich als faszinierend vor – und im jüdischen Koch Cohn (Konstantin Khabensky), der selbst unter dem Spott seiner Genossen zu leiden hat, findet sie sogar einen richtigen Freund.

Der Wiener Regisseurin Mirjam Unger gelang eine wunderbare Verfilmung von Nöstlingers unbeschwertem, von trockenem Witz durchzogenen und doch so berührenden Roman. Auch der Film schildert ihre Erlebnisse so detailreich, so voller Neugier und ohne Scheu, wie sie nur den Erinnerungen eines Kindes entstammen können. Die Achtjährige beschreibt, wie sich Mauerstaub im Hals anfühlt und wie der Russe roch, der den Kutschbock in ihre Einfahrt steuerte. Aus ihrer Perspektive beobachtet der Film das Gebaren der Erwachsenen, mit ihren Ohren scheint er jedes Geräusch aufzunehmen: das Rascheln der Bettdecken im Luftschutzkeller, oder, ein besonders schöner Moment, das laute Schmatzen, als die Familie nach Wochen des Hungerns feierlich über die Luxuslebensmittel herfällt, die die Kinder aus der verlassenen Nachbarsvilla gestohlen haben.

Keine Angst vor den Russen

Zita Gaier ist die perfekte Besetzung für die schlaue, spitzbübische, trotzige Christine, die das Gute im Menschen sehen kann, die sich nicht an blöde Regeln halten will, die aber auch vor gar nichts Angst zu haben scheint und bei Ankunft der Russen den Schreien der Mutter zum Trotz ins Freie rennt. Ursula Strauss brilliert als viel schimpfende Mutter, die es hasst, ihrer Familie nichts Besseres als schimmliges Brot anbieten zu können. Gerald Votava meistert die Rolle des schweigsamen Vaters, der aber im entscheidenden Moment, als ein betrunkener Russe mit der Waffe fuchtelnd die Familie bedroht, mit unbeirrbarer Eloquenz die Situation zu retten weiß.

So zeichnet die Geschichte ein ehrliches Bild vom Krieg – und nebenbei gelingt ihr etwas ganz Außergewöhnliches: Nämlich die Unbeschwertheit der Kinder zu zeigen, die sich inmitten von Angst, Schutt und Armut zu Spaß und Abenteuern hinreißen lassen – und in der Ausnahmesituation sogar Reize erkennen. „Ich will nie mehr in diese Scheißschule!“, ruft die Christl in einer Szene entrüstet. Und: „Ich werde alles tun, damit die Zeiten nie mehr normal werden!“

Diagonale. Mit „Maikäfer flieg“ wird heute das Festival des österreichischen Films eröffnet: 8.–13. März, Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2016)

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