Der Ausstieg aus den seit Jahresbeginn geltenden Teilen des Abkommens würde Einstimmigkeit der EU-28 erfordern.
Brüssel. Am Tag eins nach der Ablehnung des EU-Abkommens mit der Ukraine durch die niederländischen Wahlbürger übten sich die Entscheidungsträger in Brüssel in der hohen Kunst, gute Miene zu machen: „Das Assoziierungsabkommen wird weiter vorläufig angewendet werden“, ließ Ratspräsident Donald Tusk in einer ersten Reaktion wissen, während die EU-Kommission den Ball an die Regierung in Den Haag zurückspielte: Sie müsse nun die Situation bewerten und entsprechende Schritte setzen, formulierte (etwas wolkig) ein Sprecher der Kommission gestern. Europaabgeordnete aller Couleur deuteten das Votum hingegen wahlweise als Auftrag „zur Demokratisierung“ der EU (Manfred Weber, CSU), Auftrag an die Ukraine, mehr gegen Korruption zu unternehmen (Bas Eickhout, Grüne), Versagen nationaler Politik im Umgang mit der EU (Othmar Karas, ÖVP) bzw. eine populistisch motivierte Themenverfehlung (Herbert Reul, CDU).
Das Thema wurde insoweit verfehlt, als große Teile des Assoziierungsabkommens mit Kiew erstens seit Jahresbeginn provisorisch angewendet werden und der Pakt zweitens von den restlichen 27 EU-Mitgliedern bereits ratifiziert wurde. Ihn rückgängig zu machen würde ihre Einstimmigkeit erfordern – eine unrealistische Erwartung. Die Tatsache, dass er als Provisorium gilt, bedeutet allerdings, dass die niederländische Abstimmung auf EU-Ebene (zumindest vorläufig) ignoriert werden kann. In diese Richtung deutet die gestrige Stellungnahme der Brüsseler Behörde, die sich dem Assoziierungsabkommen weiter verpflichtet fühlt.
Die bisherige Vorläufigkeit des Abkommens – ein gut 2000 Seiten dickes Konvolut, das den Handel zwischen EU und Ukraine liberalisiert und europäische Normen etabliert – hat mit seiner Brisanz zu tun: Der von der ukrainischen Bevölkerung geforderte Pakt wurde im Herbst 2013 vom damaligen ukrainischen Staatschef, Viktor Janukowitsch, auf Geheiß Moskaus abgelehnt. Es folgten Massenproteste, die Regierung wurde im Februar 2014 gestürzt, Janukowitsch flüchtete nach Russland – das sich die Krim einverleibte und einen Stellvertreterkrieg in der Ostukraine vom Zaun brach, um seinen ehemaligen Satelliten auf Kurs zu bringen. Der Konflikt ist seither eingefroren.
2000 Einwände
Um russische Sorgen zu zerstreuen, dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine der eigenen Wirtschaft schade, schob die EU im Herbst 2014 die Inkraftsetzung des Pakts bis Ende 2015 auf – auch, um Moskau die Gelegenheit zu geben, etwaige Bedenken zu artikulieren. Die Russen legten daraufhin eine Liste mit mehr als 2000 Einwänden vor, die grosso modo darauf abzielten, die Übernahme von EU-Normen durch die Ukraine zu verhindern. Der unausgesprochene Hintergedanke: Ohne die verpflichtende Übernahme westlicher Normen bleibt die ukrainische Wirtschaft – und somit das ganze Land – an den russischen Markt gekettet. Nachdem der Plan nicht aufgegangen war, zog die russische Regierung andere Register und suspendierte im Dezember 2015 ihr Freihandelsabkommen mit der Ukraine. Das sei der Preis für die Freiheit, den die Ukrainer zu zahlen bereit seien, sagte damals der ukrainische Staatschef, Petro Poroschenko.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2016)