Asyl

Minderjährige Afghanen: Die vergessene Generation

Milad (links) spricht bereits nach kurzer Zeit fließend Deutsch. Sein Kollege Hossein ist Analphabet und muss zuerst lesen und schreiben lernen.
Milad (links) spricht bereits nach kurzer Zeit fließend Deutsch. Sein Kollege Hossein ist Analphabet und muss zuerst lesen und schreiben lernen.Stanislav Jenis
  • Drucken

Für minderjährige Asylwerber zwischen 15 und 18 Jahren gibt es hierzulande kaum Bildungsangebote, obwohl der Großteil von ihnen wohl in Österreich bleiben wird. Das führt häufig zu Frustration und Aggressionen im Alltag.

Milad sieht die 3-D-Drucker fasziniert an. Die drei Geräte produzieren kleine, grüne Silikonteilchen, die der 17-jährige Afghane später zu einer Lampe zusammenbauen wird. „Hier“, sagt er, und holt kleine Holzstäbe vom Tisch. „Die müssen wir in die Silikonteile stecken.“ Danach gehört alles mit Bändern zusammengeknüpft. „Das ist total schwer“, er lacht und führt weiter durch die Galerie, wo Francesca Habsburg ihr Integrationsprojekt vorstellt. Der 17-Jährige kennt die Erwachsenen, die zwischen den Kameras durch den Raum gehen. Er umarmt immer wieder welche von ihnen, scherzt. Wenn er spricht, dann tut er das in fast fließendem Deutsch, auch wenn er erst seit knapp neun Monaten in Österreich ist.

Ein paar Kilometer von Milad entfernt wohnt Jamal (Name geändert), 15 Jahre alt. Seine Haare sind, wie die Milads, kunstvoll hochgegelt. Mit seinem hochgewachsenen, noch knochigen Bubenkörper hat er sich in einen blauen Clubsessel in der Caritas-WG Yunus in der Grangasse gesetzt. Die langen Beine sind artig unter den Tisch gestellt. Wer sich mit ihm gut unterhalten will, braucht einen Dolmetscher. Seit einigen Monaten wartet er auf einen Vorbereitungskurs für den Hauptschulabschluss, bekommen hat er ihn bis heute nicht. Wenn andere Jugendliche in seiner WG in die Schule gehen, bleibt er frustriert zurück.

Derzeit befinden sich rund 6300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich in der Grundversorgung, warten also auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Zählt man minderjährige Asylwerber, die mit ihren Eltern gekommen sind, noch dazu, sind es 9300. Doch während jene Jugendliche, die nach dem 1. September 2000 geboren wurden, noch schulpflichtig sind, gibt es für diejenigen, die davor geboren wurden, zu wenig Bildungsmöglichkeiten. Laut Gesetz steht ihnen zwar eine für ihr Alter angepasste Tagesstruktur (Bildung, Freizeit etc.) zu. In der Praxis finden sie – da sie nicht mehr schulpflichtig sind – aber nur selten einen Platz in Berufsschulen, AHS oder BMHS. Die Direktoren dürfen das frei entscheiden. Eine Lehre ist nur in Mängelberufen möglich. In Wien gab es 2015 maximal 15 solcher Fälle, heißt es im AMS.


NGOs warnen. NGOs, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreuen, schlagen längst Alarm. „Die 15- bis 18-Jährigen sind unsere größten Sorgenkinder, sie machen auch den Großteil aus“, sagt Clemens Klingan, Geschäftsleiter der SOS-Kinderdörfer in Wien, Niederösterreich und Oberösterreich. Nur wenige der 15- bis 18-Jährigen, die das SOS-Kinderdorf betreut, haben einen Platz in einer Schule gefunden. In Pflichtschulen können sie auch nicht gehen. Sobald jemand dem Pflichtschulalter entwachsen ist, darf er per Gesetz keine Pflichtschulklasse mehr besuchen, heißt es aus dem Unterrichtsministerium.

„Diese Jugendlichen wollen lernen, bekommen aber keine Chance“, empört sich Klingan. Was bleibt, seien Deutschkurse bei der Volkshochschule, die gerade einmal drei Stunden an drei Tagen die Woche dauern würden. Neun Stunden gegen 30 Stunden Schule. „Das ist auf Dauer nicht genug“, sagt Klingan. Erst, wenn das Asylverfahren entschieden ist, haben sie Zugang zu allen AMS-Maßnahmen, auch der Lehre. Doch während bei Syrern das Verfahren meist innerhalb weniger Monate abgeschlossen ist, dauert es bei den Afghanen – die immerhin im Vorjahr den Großteil der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ausmachten – schnell einmal zwei Jahre oder länger, bis die Verfahren beendet sind, wie Hilfsorganisationen immer wieder berichten. „Das ist verlorene Lebenszeit“, sagt Klingan.

Abschiebung? Schwierig. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Minderjähriger aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Iran abgeschoben wird, geht derzeit gegen null, aufgrund der Situation in den Herkunftsländern oder fehlender Heimreisezertifikate. Auch Abschiebungen im Sinne der Dublin-Regel in ein anderes EU-Land finden bei unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen aufgrund ihrer hohen Schutzbedürftigkeit de facto nicht statt. „Die, die bleiben, sollten möglichst schnell eine Ausbildung bekommen, damit sie nachher nicht die Perspektive eines Hilfsarbeiters haben. Wir wollen uns ja keine Generation heranziehen, die perspektivenlos ist“, sagt Klingan.

In der Caritas-WG kämpft Jamal genau um das. Um eine Perspektive. Die WG ist im selben Haus wie ein Obdachlosennotquartier. Die Gänge des ehemaligen Jugendhostels sind bunt bemalt, aber es kommt wenig Licht hinein. Im schmalen Zimmer von Jamal steht sein Bett fast neben dem eines anderen Jugendlichen, der um elf Uhr Vormittag noch schläft. Jamal ist seit knapp einem Jahr in Österreich, den Termin für sein Asylinterview hat er noch nicht bekommen.

„Ich möchte auch in die Schule gehen“, sagt er. Doch freie Bildungsplätze sind rar. Auch bei diversen Initiativen wie Prosa, wo Jugendliche den Hauptschulabschluss nachholen können, oder Basisbildungskurse der Stadt Wien. „Es werden auch die Anforderungen immer höher“, sagt Karina Al Shater, Jamals Bezugsbetreuerin in der WG. „Wir hören immer öfter, dass jemand Deutsch auf B1-Niveau (also bereits sehr gut, Anm.) können muss. Oder Englisch. Jamal hatte aber davor keine Chance Englisch zu lernen“, sagt sie. Dabei sei der 15-Jährige sonst ein Vorzeige-Jugendlicher. Ein talentierter Fußballer, der mittlerweile bei einem Verein mehrmals die Woche trainiert, neben den neun Stunden Sprachkurs, den er während der Woche besucht. Beim Fußball kommt er mit österreichischen Jugendlichen in Kontakt. Eine Sache, um die er die jüngeren schulpflichtigen WG-Kollegen beneidet. „Die sprechen dadurch jetzt schon viel besser Deutsch. Ich muss sie zum Übersetzen mitnehmen, wenn ich den Betreuer etwas fragen will“, sagt er.

Der Frust macht sich auch bei anderen in der WG breit. „Die meisten haben Schlafstörungen“, sagt Al Shater. Vor zwei Uhr nachts ist in dem Haus kaum Ruhe, wenn sie am nächsten Tag keinen Grund zum Aufstehen haben, bleiben sie, so wie Jamals WG-Kollege, schon einmal bis Mittag liegen.

Alkohol ist zwar verboten, aber es kommt vor, dass sich Jugendliche außerhalb betrinken. Ein Junge hat mit Selbstmord gedroht. „Einmal hat jemand den Jugendlichen erzählt, dass die Asylverfahren schneller gehen, wenn sie sich selbst verletzen“, erzählt Al Shater. Daraufhin hätten sich einige der Burschen die Unterarme aufgeritzt.

Bei den Behörden ist die Situation der nicht mehr Schulpflichtigen bekannt. In Wien will man deswegen das Jugendcollege ins Leben rufen, das genau diese Zielgruppe (geplant sind 1000 Plätze für Flüchtlinge und Asylwerber) ausbilden soll. Doch für das College findet jetzt erst die Ausschreibung statt. Bis es startet, wird es noch dauern. Auch um eine generelle Anlaufstelle für freie Bildungsplätze ist man in Wien bemüht. „Die unübersichtliche Suche nach einem freien Kurs ist eine Übung, die man sich nicht geben muss“, sagt Ursula Struppe, Leiterin der MA17 und zuständig für Integration. Auch in Niederösterreich soll es zumindest Gespräche zum Thema Ausbildung für 15- bis 18-Jährige geben. Derzeit gebe es „maximal einzelne Projekte. Es steckt kein System dahinter“, heißt es aus dem Büro von Landesrat Maurice Androsch (SPÖ).

Schule geplant. „In Niederösterreich geht gar nichts“, sagt Marianne Engelmann, die in Wien und Niederösterreich ihre drei Georg-Danzer-Häuser für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreibt. Mit ihrer rauchigen Stimme spricht die Frau mit den langen schwarzen Haaren schon einmal provokant aus, was andere sich denken. „Ich bilde die Burschen daher selber aus“, sagt Engelmann. Sechs Stunden täglich bekommen alle Jungen, die nicht mehr schulpflichtig und sonst in keinem Bildungsprojekt sind, Unterricht von zuhause aus. Als Basis nehmen die Sozialpädagogen den Lehrplan für die Hauptschule. Innerhalb eines Jahres, sagt sie, sprechen so gut wie alle fließend Deutsch. Mit September will sie nun ihre eigene Schule für minderjährige Flüchtlinge aufmachen. Denn sie sieht auch die Gefahr, dass Jugendliche ohne Beschäftigung in die Kriminalität abrutschen. Bis Juni sind noch einige ihrer Jugendlichen im Green-light-Integrationsprojekt von Francesca Habsburg und dem Künstler Olafur Eliasson untergebracht, wo sie Lampen bauen und Deutsch lernen. Auch Milad, der sprachgewandte Afghane, ist Teil des Projekts. „Ich habe viel Glück gehabt“, sagt er. Er hätte von Anfang an eine gute Betreuung im Danzer-Haus bekommen, durch den Unterricht eine echte Chance gehabt. Und sie für sich genutzt. Im Herbst wird er im Gymnasium starten. Den Platz hat er sich selbst nach Vorsprache beim Direktor gesucht. Mehrere Kilometer entfernt hat Jamal auch wieder Hoffnung. Im Juni startet wieder ein Hauptschul-Vorbereitungskurs. Er will unbedingt einen Platz bekommen.

Ausbildung

6300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind derzeit in Österreich in der Grundversorgung. Der Großteil von ihnen ist zwischen 15 und 18 Jahren alt. Für sie gibt es kaum Bildungsangebote. Pflichtschulklassen dürfen sie nicht mehr besuchen, in AHS, BMHS und Berufsschulen entscheiden Direktoren über freie Plätze. Eine Lehre können sie nur in Mängelberufen machen. In Privatinitiativen oder den Basisbildungskursen der Stadt Wien gibt es zu wenig Plätze.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.