Karabach, Kosovo, Zypern: Suche nach Ausweg

Wie könnte eine Lösung für den seit den 1990er-Jahren immer wieder aufflammenden Konflikt um Berg-Karabach aussehen? Wie wäre es mit einer proportionalen Aufteilung nach dem ethnisch-territorialen Prinzip?

Anfang April brachen im Grenzgebiet zwischen Aserbaidschan, dem De-facto- Staat Berg-Karabach und Armenien die blutigsten Gefechte seit 1994 aus. Inzwischen gingen – nach etwa 80 Toten auf beiden Seiten – die aserbaidschanischen Geländegewinne großteils wieder verloren. Dennoch dürfte der Angriff zumindest ein Ziel erreicht haben: Der Karabach-Konflikt steht wieder weit oben auf der Agenda der internationalen Friedensvermittlung.

Abgesehen von den üblichen Interessierten wie etwa Russland schalteten sich die USA, Frankreich und Deutschland in die Bemühungen um einen Waffenstillstand ein. Und als weiterer Beweis für das erhöhte Gefahrenbewusstsein westlicher Staaten trat am 5. April in Wien die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu einer Krisensitzung zusammen.

Demokratien im Dilemma

Zwar wird in diesem Format unter Vorsitz Russlands, der USA und Frankreichs immerhin seit 1992 nach einer Konfliktlösung gesucht. Erneute Anstrengungen sind, auch wenn weiterhin wenig aussichtsreich, jedenfalls kein Fehler. Eine stärkere Rolle der EU wird von Analytikern mitunter gefordert, erscheint aber wenig realistisch.

Was aber sind die Gründe für die oft passive Rolle der EU, einzelner EU-Staaten und der USA in der Karabach-Frage? Zum einen die realen Machtverhältnisse in der Region mit Russland als dominierendem Faktor und der Türkei als Rückhalt Aserbaidschans. Unter diesen Voraussetzungen zementieren sich die Konfliktparteien seit 1994 in einem Status quo ein, der ihnen Kompromisse nicht mehr wünschenswert erscheinen lässt.

Die westliche Staatenwelt wiederum verfügt kaum über Druckmittel, um diese Erstarrung aufzubrechen und eine auf Interessenausgleich abzielende Verhandlungslösung zu erzwingen. Zusätzlich komplizierter wird die Angelegenheit noch dadurch, dass gerade aus westlich-demokratischer Perspektive die üblichen Lösungsmodelle nicht guten Gewissens anwendbar sind.

Zwar lässt sich Aserbaidschans Forderung nach der Eingliederung des ehemaligen sowjetischen Autonomiegebiets in seine Staatlichkeit völkerrechtlich durchaus begründen. Andererseits erscheint der Anspruch Karabachs auf Unabhängigkeit gemäß dem völkerrechtlichen Prinzips des Rechts auf Selbstbestimmung ebenso legitim.

Auch weil Aserbaidschan seit seiner Existenz als souveräner Staat de facto nie die Herrschaft über Karabach, das sich nach einer Volksabstimmung einseitig für unabhängig erklärt hat, ausgeübt hat. Der aserbaidschanische (Rück-)Eroberungskrieg von 1991 bis 1994 scheiterte und führte erst die heutige brisante Situation herbei.

Einvernehmliche Grenzziehung

In einem Umfeld westlich demokratischer Staaten wäre die Lösung mühselig, könnte aber nach geltender Praxis etwa folgendermaßen aussehen: Eingliederung von Berg-Karabach in den aserbaidschanischen Staatsverband unter weitestreichender Autonomie, die von bestimmten Staaten oder Bündnissen garantiert wird. Unter den realen Bedingungen des Südkaukasus erscheint ein solcher Weg jedoch nicht gangbar. Der De-facto-Staat Berg-Karabach ist ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen mit regelmäßigen freien Wahlen und einer vielfältigen Parteienlandschaft. Aserbaidschan hingegen wird als autoritär regierter Staat wahrgenommen, der in den diversen Bewertungen für demokratische Standards regelmäßig nur knapp vor Saudiarabien und dem Iran rangiert. Eine Autonomiezusage seitens Bakus gegenüber einer verhassten ethnischen Minderheit wäre wohl nur sehr wenig wert.

Wie aber kann eine Lösung aussehen, die demokratie- und menschrechtspolitische Überlegungen einbezieht? Verständlicherweise kann sich Aserbaidschan nicht mit dem Verlust der Territorien um Berg-Karabach, die die Armenier als Sicherheitszone für Karabach betrachten, abfinden. Aus diesen Gebieten wurden Hunderttausende Menschen vertrieben, die auch ein Recht auf Rückkehr haben.

Eine nachhaltige Lösung könnte das Prinzip der ethnisch-territorial proportionalen Aufteilung erbringen. Ausgehend vom Faktum, dass vor dem Karabach-Krieg um 1990 rund 77 Prozent der Bevölkerung Armenier und 22 Prozent Aserbaidschaner (ein Prozent andere, vornehmlich Kurden) waren, wäre das umstrittene Territorium nach diesem Schlüssel aufzuteilen.

Ungewohnter Lösungsansatz

So ungewohnt ein solcher Lösungsansatz zunächst anmuten mag, der Friedensplan für Zypern, wie er 2002 von der UNO unter Kofi Annan vorgelegt wurde, beruht auf diesem Gedanken der ethnisch-territorialen Proportionalität. Im Karabach-Fall läge der Vorteil darin, dass die Konfliktparteien vom Prinzip des alternativlosen „Entweder ist Karabach Teil Aserbaidschans oder nicht“ wegkämen. Die alles blockierende Frage des künftigen Status von Karabach würde sich zu einer nach der Grenzziehung zwischen einem um 22 Prozent verkleinerten Karabach und Aserbaidschan wesentlich flexibler verhandelbaren transferieren.

Aserbaidschan würde ohne Blutvergießen jene fast 17 Prozent seines Territoriums zurückgewinnen, die derzeit die armenische Sicherheitszone rund um Karabach ausmachen, plus einen kleineren Teil von Karabach selbst. Karabach hingegen fiele nicht unter aserbaidschanische Herrschaft, was das langfristige Überleben seiner armenischen Bevölkerung gewährleisten würde.

Präzedenzfall Kosovo

Armenien inklusive Karabach wiederum könnten endlich Politik und Wirtschaft auf andere Ziele ausrichten als auf die Verteidigung Karabachs und das Überleben im Rüstungswettlauf mit Aserbaidschan. Bei aller verständlichen Abneigung der Staatengemeinschaft gegen Neuziehungen von Grenzen: Wenn alle Konfliktparteien dieser zustimmten, spräche nichts dagegen, weil die üble Vorbildwirkung in Richtung einseitiger Abspaltung nicht gegeben wäre.

Angesichts der komplexen Interessenlage im Südkaukasus werden die Regionalmächte eine proportionale Teilungslösung so rasch nicht realisiert sehen wollen, von einzelnen Konfliktparteien ganz zu schweigen. Trotzdem können Elemente des proportionalen Ansatzes neue Impulse in festgefahrene Konfliktszenarien bringen.

Immer wieder wird die Abtrennung Kosovos von Serbien als möglicher Präzedenzfall für Karabach angeführt. Ob dies zutrifft, sei dahingestellt, jedenfalls aber könnte auch im Fall Kosovo eine Neuziehung der Grenze nach ethnisch-territorialer Proportionalität eine nachhaltige Lösung erleichtern.

Der serbisch besiedelte Nordkosovo würde so aus der albanischen Republik Kosovo de facto ausscheiden, womit mittelfristig genau jene Situation nicht eintreten kann, die die Kosovo-Albaner unter umgekehrten Vorzeichen in Jugoslawien/Serbien über lange Jahre haben erfahren müssen.

E-Mails an: obfuscationcom" target="_blank" rel="">debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Christoph H. Benedikter (*1966 in St. Pölten ) studierte u. a. Geschichte in Wien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Wien, Raabs, sowie freier Ausstellungskurator. 2011 erschien sein Buch „Brennpunkt Berg-Karabach. Ein Konflikt gefriert. Hintergründe, Folgen, Auswege“ (Studien Verlag, Innsbruck) . [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2016)

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